Seit dem 5. März ist auf der Emporengalerie des Landhauses eine kleine Fotoausstellung zu sehen. Sie gibt einen Einblick in ein wichtiges stadtgeschichtliches Thema: Städtepartnerschaften. Diese oft sehr vielschichtigen und lebendigen Beziehungen zwischen Städten entstanden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, sind zeitlich nicht begrenzt und somit auf Kontinuität ausgerichtet und basieren auf einem gemeinsamen Partnerschaftsvertrag. Diese besondere Art der interkommunalen Beziehungspflege ist nicht nur für die Stadtpolitik und –verwaltung von Bedeutung, sondern auch für die jeweilige lokale Bevölkerung. Nicht wenige Menschen engagieren sich privat in verschiedenen Projekten und bauen damit langjährige internationale Kontakte auf.

Das Jahr 2024 ist für Dresden in dieser Hinsicht eine besondere Wegemarke: Neben dem 85-jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft mit Breslau / Wrocław (das ab 15. November 2024 mit einer Sonderausstellung im deutsch-polnischen Kraszewski-Museum gewürdigt wird), entstand im Frühjahr 2023 die Idee einer trilateralen Solidaritätspartnerschaft. Sie ist nicht nur ein Spiegel europäischer Zeitgeschichte, sondern auch ein Beispiel für lebendige – stark von Bürger:innen mitgeprägte – Stadtgeschichte und in ihrer Konstellation einmalig. Trilateral bedeutet in diesem Fall, dass drei Städte eine kommunale Zusammenarbeit vertraglich beschließen. Bereits am 7. November 2023 wurde die Zusammenarbeit online vereinbart. Die feierliche Unterzeichnung mit den Oberbürgermeistern Dirk Hilbert (Dresden), Dr. Frank Nopper (Stuttgart) und Dr. Oleksandr Symtschyschyn (Chmelnyzkyj) fand am 5. März 2024 im Festsaal des Landhauses, dem Sitz des Stadtmuseums, statt. In der Erklärung heißt es unter anderem:

Die Partnerschaft bietet eine Plattform für bilaterale und trilaterale Kommunikation und Kooperationsprojekte, um humanitäre Hilfe in Chmelnyzkyj zu leisten, die Stadt auf dem Weg nach Europa zu begleiten und ihre Bevölkerung beim Wiederaufbau zu unterstützen.

Auszug aus der Vereinbarung

Die Wahl fiel nicht zufällig auf Chmelnyzkyj, die Hauptstadt der gleichnamigen Region in der Westukraine. Die Stadt erhielt 2021 den Europapreis des Europarates für ihre herausragenden Bemühungen um den europäischen Einigungsgedanken und ist seitdem – wie Dresden – Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der Europapreisträgerstädte. Über diese bereits bestehende Verbindung nahm Dresden nach Ausbruch des Krieges Kontakt zu der ukrainischen Stadtverwaltung auf. Gleichzeitig hatte sich auch Stuttgart – bis dahin ohne Kenntnis der Dresdner Kontaktaufnahme – für Chmelnyzkyj interessiert. So entstand die Idee einer gemeinsamen Solidaritätspartnerschaft.

Städtepartnerschaften werden durch Menschen lebendig. Fotos: Anton Buha und Serhii Zysko

Da nur wenige Dresdner:innen diese Stadt kennen, zeigt das Stadtmuseum seit Anfang März 2024 eine kleine Fotoausstellung mit Einblicken in die Stadt und ihre Menschen. Die Fotografien und Texte der Ausstellung und des Blogbeitrags wurden von Mitarbeiter:innen der Stadt Chmelnyzkyj ausgewählt/erstellt und im Anschluss mit den Partner:innen in Dresden weiterentwickelt. Sie zeigen den Alltag aus ukrainischer Sicht. Eine Hälfte der Fotografien zeigt die Stadt vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, die andere Hälfte während des Krieges. So wird der Bruch deutlich, der mit dem russischen Angriffskrieg entstanden ist: die Welt hat sich nicht nur für die Menschen in Chmelnyzkyj, sondern auch in Dresden verändert.

Das „Davor“: Stadtbild | Bildung | Sport & Freizeit

Die Stadt liegt etwa 280 km von Kiew und 220 km von Lwiw entfernt. Chmelnyzkyj hat ca. 270.000 Einwohner:innen und ist als Industrie- und Hochschulstadt das kulturelle Zentrum der Region. Das heutige Stadtbild ist, ähnlich wie in Dresden, geprägt von einer Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart.

Kontraste einer Stadt. Fotos: Oleksandr Savenko und Anastasiia Poturniak

Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung der städtischen Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur. Bis vor kurzem gehörte Chmelnyzkyj zu den Städten mit dem höchsten natürlichen Bevölkerungswachstum, viele junge Menschen und Familien zogen in die Stadt. Ein großer Fokus liegt daher auf der Ermöglichung vielfältiger außerschulischer Aktivitäten, wie zum Beispiel das Experimentieren mit dem Zukunftsfeld Robotik. Die Menschen in Chmelnyzkyj sind aber auch sportbegeistert. Auf den Straßen der Stadt sind oft Gruppen von Radfahrenden anzutreffen und am Fluss „Südlicher Bug“ (Pivdennyi Buh) Jungen und Mädchen, die das Kajakfahren trainieren. Seit 2016 wurden in der Stadt rund 60 neue Sportplätze gebaut und im Stadion finden regelmäßig Wettbewerbe statt. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die »Olympischen Hofspiele« und stadtweite Fitnesstrainings.

Robotik-Experimente im „Robolub“, Foto: Viktor Pohorilyi
Triathlon im Fluss „Südlicher Bug“, Foto: Anton Buha

Festivals und Veranstaltungsreihen unterschiedlichster Art brachten in den letzten Jahren nicht nur Schwung, gute Laune und hochwertige Kunst und Kultur in die Stadt, sondern ermöglichten auch Treffen mit Freunden und Familienfreizeiten. Jedes Jahr fanden in Chmelnyzkyj mehr als ein Dutzend große Festivals statt. Die bekanntesten sind das „ROCK&BUH“ mit alternativer Musik auf dem Flughafengelände, die „ArtMajorShow“ mit zahlreichen Blaskapellen auf den Straßen, das „Hlushenkov-FolkFest“ mit ukrainischen Tänzen und Trachten, die „Chmelnyzkyj Kammerspiele“ mit klassischer Musik und das Festival für Amateurtheater und Literatur.

Rockmusik & Blaskapelle, Fotos: Andrii Oblaukhov und Kseniia Kosiuk

Das „Danach“: Gedenken | Freiwillige | Verluste

Wer täglich durch die Innenstadt geht, sieht fast 400 Gesichter von Soldaten, die im russischen Angriffskrieg ihr Leben verloren haben. Mitten in der Stadt ist eine öffentliche Gedenkstätte entstanden. Tod und Leben treffen hier unmittelbar aufeinander: Es herrscht reges Treiben, Cafés und städtische Einrichtungen sind geöffnet, junge Menschen gehen spazieren. Die Kinder der Soldaten kommen zu den Porträts, um „ihren Papa zu sehen“. Für die Familien der vermissten Soldaten ist es der einzige Ort, an dem sie sich an ihre Angehörigen erinnern können.

„Die Straße der gefallenen Helden“, Fotos: Oleksandr Savenko

Nach dem russischen Angriff wurden fast alle Bewohner:inneen von Chmelnyzkyj zu Freiwilligen: In ihrem Alltag empfangen sie geflüchtete Menschen am Bahnhof und versorgen sie mit Essen und Wasser, sammeln Kleidung und Haushaltsgegenstände, bieten kostenlose psychologische Betreuung an, backen Kuchen für Flüchtlinge und Soldaten, flechten Tarnnetze und organisieren für die Armee alles von Socken bis zu Autos. Vor allem Kinder leiden unter der Situation. Manche sind aus besetzten, bombardierten und zerstörten Dörfern und Städten geflohen. Andere sehen ihre Väter nur über Videoanrufe, weil diese seit zwei Jahren im Krieg sind. Einige haben Explosionen in der Nähe ihrer Häuser erlebt. Bei Luftalarm und Beschuss suchen sie oft täglich Schutz. Etwa 400 Kinder der Stadt Chmelnyzkyj haben ihre Eltern im Krieg verloren oder sind in Gefangenschaft. Bei Raketenangriffen auf die Stadt wurden 100 Zivilisten verletzt, darunter auch Kinder.

Tarnnetze knüpfen in einer Turnhalle, Foto: Viktor Fedotov
Freiwilligen-Einsatz am Bahnhof, Foto: Roman Rudakov
Foto: Maksym Holoborodko (Ausschnitt)

Krieg bedeutet Verluste. Seit fast zehn Jahren sind mehr als 370 Kämpfer aus Chmelnyzkyj nicht nach Hause zurückgekehrt. Mehr als 330 von ihnen sind nach dem 24. Februar 2022 gefallen. Die jüngsten Soldaten aus Chmelnyzkyj, die im Krieg ihr Leben verloren, waren 17, 18 und 19 Jahre alt. Niemand war darauf vorbereitet, dass man eines Tages die Tür öffnen muss für Menschen, die man nicht kennt, die gezwungen sind, „ihr Leben hastig in einen Koffer zu packen“ und vor den Schrecken des Krieges zu fliehen. Seit dem 24. Februar 2022 hat Chmelnyzkyj fast 300.000 Flüchtlinge aufgenommen. Mehr als 30.000 von ihnen sind geblieben. Das sind mehr als 10 Prozent der Stadtbevölkerung. Die Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten – und manchmal für immer verloren haben – wurden mit dem Nötigsten versorgt. Wenn sie in Chmelnyzkyj blieben, wurden sie dabei unterstützt, Arbeit zu finden, sich zu sozialisieren und sich einzuleben. Große Opferbereitschaft und Liebe füreinander prägen heute das Leben in Chmelnyzkyj.

  • Rückkehr „auf dem Schild“, Foto: Roman Rudakov