Kontexte des Kunstwerks „Salem Aleikum.
Der Widerhall des sogenannten Orients“

Eine LED-Installation an der Fluchttreppe des Landhauses zeigt aufgeteilt in drei Abschnitte untereinander die Worte "RAUCHENDE / SALEM ALEIKUM / REKLAME"
Kunstinstallation an der Fluchttreppe des Landhauses

Orient und Tabak

Manche (historische) Erkenntnisse sind eindeutig: Dresden war um 1900 eine europäische Tabak- bzw. Zigarettenmetropole. Ein Hauptrohstoff war der importierte Orient-Tabak. Es handelte sich um Tabak aus den Ländern… ja, Moment – wo lag denn damals eigentlich der sogenannte Orient? Heute verknüpfen wir diese Region vorrangig mit den arabischen Staaten in Vorderasien und Israel. Aber der seit 1870 (erstes Lager für Orient-Tabak) in Dresden verarbeitete Tabak stammte aus der Provinz Mazedonien im heutigen Griechenland, Bulgarien und der Schwarzmeerküste. Der sogenannte Orient in Dresden war also um 1900 osmanisch-griechisch (und manchmal auch indonesisch, afrikanisch oder asiatisch…) geprägt. Wir haben es also bei diesem Begriff mit einer europäischen Konstruktion zu tun. Sie konstruiert sowohl geografische Regionen mit wirtschaftlichen Beziehungen in das Deutsche Reich als auch bestimmte Kulturvorstellungen, die wir von diesen besitzen, ohne detaillierte Kenntnisse dieser Gebiete und ihrer Menschen. Dieser Prozess wird mit dem Begriff „Orientalismus“ beschrieben.


Leuchtend gelbe Pappschachtel für Zigaretten der marke "Orient" mit der Aufschruft "Echte Orient-Tabake".
Pappschachtel für Zigaretten Zigarettenschachtelder Marke „Orient“ (ohne Mundstück), um 1975.
Stadtmuseum Dresden, SMD_2018_00040

Orientalismus

Mit dem Titel der Sonderausstellung „Tabakrausch an der Elbe. Geschichten zwischen Orient und Okzident“ (zu sehen bis 1. August 2021) und dem Werktitel der künstlerischen Arbeit an der Fluchttreppe des Landhauses greift das Stadtmuseum diesen Diskursbegriff auf. Damit wird ein Bereich betreten, der bei weitem nicht so eindeutig ist wie die Analyse von Absatzmärkten und Vertriebswegen. Bis heute wird um den Begriff und Prozess des „Orient(alismus)“ gerungen. Das liegt vor allem an einem der großen Kritiker „westlicher Überlegenheit“: dem Literaturwissenschaftler Edward W. Said (1935–2003). Er machte sich das „Othering“ zum Thema: Warum beschäftigen wir uns als weiße Europäer:innen eigentlich seit Jahrhunderten mit östlichen Kulturen und deren Lebensweisen? Saids These ist, dass wir – basierend auf unseren Normen und Werten –  Gegenbilder entwerfen, um uns selbst besser bzw. „überlegen“ zu fühlen. Wir kontextualisieren das Fremde (mit kolonialem Blick), um das Eigene überlegen dastehen zu lassen. Eine These Saids ist, dass der Deutsche Orientalismus vor allem in der Literatur sichtbar war und ist. Aber wie ist das nun mit unserem Kunstwerk an der Fluchttreppe? Dürfen wir eigentlich die Konstruktion des sogenannten Orients heraufbeschwören (und darauf warten, welcher Widerhall zurückkommt) und für unsere Zwecke inszenieren, obwohl wir im Stadtmuseum ausschließlich europäisch-weiß geprägt sind?

Orient, Orientalismus und Yenidze

Die Yenidze ist ein schönes Beispiel für den „Orientalismus“, sie ist so bunt wie die facettenreichen Ansichten zum Begegnungsbereich zwischen Orient und Okzident. Die vermeintliche Moschee ist eine moderne Zigarettenfabrik, erbaut vom deutschen Unternehmer Hugo Zietz (1858–1927) in den Jahren 1907 bis 1909. Immerhin benannte er sein hochmodernes Industriegebäude nach einer Kleinstadt in Griechenland (damals Türkei) und verweist damit auf die tatsächliche Herkunft des Rohstoffes. Genisea liegt in einem bulgarischen Tabakanbaugebiet (Gemeinde Vistonida in der Gemeinde Abdera, Regionaleinheit Xanthi in Griechenland). Der Begriff ist allerdings nicht griechisch, sondern türkisch und bedeutet „Neues Land“. Der Architekt Martin Hammitzsch (1878-1945) und der Auftraggeber Zietz waren lost in Historismus. Für den 62 Meter hohen Zweckbau mit einem Kern aus Stahlbeton bedienten sie sich verschiedener Architekturdetails, die auf „das Fremde“ verweisen sollten. Auslöser waren zwei Aufgabenstellungen: Erstens durfte das Fabrikgebäude laut städtischer Bauordnung von 1906 aus ästhetischen Gründen nicht aussehen wie eins und zweitens wünschte sich Zietz als Unternehmer einen Werbebau. Im gänzlich unbarocken Resultat werden die Menschen bis heute mit Pseudo-Elementen sakraler muslimischer Architektur konfrontiert: ein prunkvolles Portal, eine Gebetsnische (Mihrāb), farbige Glasfenster und Mosaiken, eine beeindruckende Kuppel und ein Schornstein in der Form eines Minaretts. Das real existierende Vorbild für den pseudoislamischen Bau fand Hammitzsch sehr wahrscheinlich im 1502-1520 erbauten Grabkomplex (Mausoleum) des osmanischen Gouverneurs Emir Khayrbak in Ägypten/Kairo vor (مسجد ومدرسة الأمير خاير بك).

Fotografie Grabesmoschee Emir Khayrbak, Sebah, Jean Pascal (1872-1947). http://collections.vam.ac.uk/item/O1299251/the-dome-and-minaret-of-photograph-sebah-jean-pascal/
Postkarte der Yenidze vor 1945. Stadtmuseum Dresden, SMD_2015_00224

Der Mehrwert der konstruiert-orientalistischen Erscheinung des Gebäudes war die Werbewirkung. Durch die ungewöhnliche Architektur und die beleuchtete Kuppel war die Yenidze Tag und Nacht überdeutlich wahrnehmbar. Natürlich rekurriert sie auf die fruchtbaren Handelsbeziehungen um 1900, die oft auf Augenhöhe geführt wurden. Nichtsdestotrotz können wir nicht die Augen davor verschließen, dass die fremde Region mit den durch den sogenannten Okzident konstruierten Stereotypen für eigene, ökonomische Zwecke benutzt wurde und dass das ein Teil unserer Stadtgeschichte ist. Wir haben es mit einem Orientalismus zu tun, der Bilder und Produkte „vornehmlich aus einer ökonomisch-künstlerischen Perspektive“ miteinander verknüpft, wie Rima Chahine es am „orientalistische Plakat Westeuropas 1880-1914“ aufzeigte.


Zietz kleidete seine Fabrik wie eine Anziehpuppe. Beim Anblick ruft sie Assoziationen und Imaginationen hervor, die den westlichen Blick auf die „Anderswelt Orient“ auch heute noch prägen: Islam, Exotik, Wüsten und Palmen, Genuss, Luxus, Erotik und unbekannte Welten weit im Osten verborgen. Diesen „Zauber“ versuchte die Zigarettenproduktion in Dresden einzufangen. Sie reproduzierte ihn durch ihre Marken mit orientalischen Namen wie „Salem Gold, Salem Auslese, Salem Nr. 6 “ – eine Referenz auf die arabische Grußformel السلام عليكم as-salāmu ʿalaikum („Friede sei mit euch“). Auf dem Dach der Yenidze (lange Ostseite) stand in großen Buchstaben SALEM ALEIKUM als Leuchtreklame, wie Postkarten zwischen den 1910er und den 1930er Jahren dokumentieren. Der Schriftzug wurde wahrscheinlich um 1933/34 im Vorfeld des Führerbesuchs zur Reichstheaterwoche demontiert. Zu diesem Anlass wurde die Yenidze mit enorm großformatigen Hakenkreuzflaggen behangen (Danke an Dr. Dornheimer vom Stadtarchiv für diese Informationen!).

„Aber was ist mit eurer Haltung?“

Die „Abteilung für liegengebliebene Angelegenheiten“ greift diese Leuchtschrift – die einst eine Traumwelt in den Dresdner Himmel projizierte – nun wieder auf. Mit ihrer Installation am (prominent sichtbaren) Fluchttreppenhaus des Landhauses eröffnen sie einen Assoziationsraum um die heutige Deutung und Bedeutung des Schriftzuges:

Der ursprüngliche Werbeschriftzug „Salem Aleikum“ soll in der Installation immer wieder neu kontextualisiert werden in dem Versuch, dadurch die orientalistisch-kolonialen Kontinuitäten abzulegen, die sich in ihm eingeschrieben haben. Gerade die Frustration über die Unmöglichkeit dieses Vorhabens war für uns Ansporn dieser Arbeit. Die eigenen Bilder des sogenannten Orients – insbesondere auch unsere eigenen als weiße, europäische Kunstschaffende – hinterfragend, geben die wechselnden Texte weder eine eindeutige Erklärung noch eine einfache Einordnung vor, sondern lassen absichtlich Leerstellen, Ambivalenzen und Provokationen zurück, um so diskursiv in den öffentlichen Stadtraum hineinzuwirken.“

Die eingangs gestellte Frage, ob wir die europäische Konstruktion des sogenannten Orients als weiß geprägtes Stadtmuseum thematisieren dürfen, kann eindeutig mit JA beantwortet werden. Denn es gehört zu unseren Aufgaben, komplexe gesellschaftliche Verflechtungen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und Denkprozesse bei unseren Besucher:innen – und uns selbst (!) – auszulösen. In der industriellen Zigarettenproduktion in Dresden ist (unter anderem!) auch eine fortgesetzte Kolonialgeschichte zu finden. Es geht um den Zusammenhang zwischen Kultur und (politischer) Macht und um postkoloniale Erfahrungsräume. Denn auch heute noch blickt die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht ohne tradierte Orientvorstellungen auf die Regionen des Nahen und Mittleren Ostens. Museen können heutzutage Katalysatoren für genau solche Diskurse sein. Anders als die Werbereklame auf dem Dach der orientalisierten Yendize-Fabrik, geben wir den Betrachter:innen Hinweise auf diese ambivalenten Bedeutungskontexte und entlassen den Widerhall des sogenannten Orients in den Resonanzraum Stadt. Er sollte dazu führen, dass wir uns als Stadtmuseum in der nahen Zukunft auch innerhalb unserer Organisation diversifizieren und nicht nur Kunstprojekte, sondern auch unser Wettbewerb um Mitarbeiter:innen (u. a. BIPOCs), Forschungen und Ausstellungen von genau dieser Vielfalt befruchtet werden.

[*] https://de.wiktionary.org/wiki/Whataboutism

Literatur

  • Juan Carmona-Zabala: Griechen in der Dresdner Zigarettenindustrie. In: Starke (Hg.): Tabakrausch an der Elbe. Geschichten zwischen Orient und Okzident. Petersberg 2020, S. 65–68.
  • Rima Chahine: Das orientalistische Plakat Westeuropas 1880-1914. Bd. 1. Oldenburg 2013 (zugl. Dissertation, Universität Oldenburg), S. 5. https://oops.uni-oldenburg.de/id/eprint/2354
  • Conor McCarthy: Edward W. Said. In: Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbec (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart 2017, S. 10–15.
  • Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. M. u. a. 1981.
  • Swen Steinberg: Orientalismus auf sächsisch? Dresdner Zigarettenmarken zwischen Regionalismus und globaler Welt. In: Starke (Hg.): Tabakrausch an der Elbe. Geschichten zwischen Orient und Okzident. Petersberg 2020, S. 120–129.
  • Zouheir Soukah: Der „Orient“ als kulturelle Selbsterfindung der Deutschen. 2017. (zugl. Dissertation, Universität Düsseldorf). https://www.researchgate.net/publication/313747398_Der_Orient_als_kulturelle_Selbsterfindung_der_Deutschen