Ein filigraner Pfeifenkopf aus Meißner Porzellan, eine schwergewichtige Zigarettenmaschine, ein wunderschönes Rauchservice aus Japan, ein Tomahawk, Werbeplakate – diese und viele weitere Objekte waren in der Sonderausstellung „Tabakrausch an der Elbe“ zuerst in Dresden, dann in Chemnitz zu sehen. Nach fast drei Jahren sind die Stücke noch einmal durch die umsichtigen Hände der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stadtmuseums Dresden und des Industriemuseums Chemnitz gegangen und schließlich an die 33 Leihgeber übergeben worden. Damit endet das große Gemeinschaftsprojekt „Tabakrausch an der Elbe“ – was bleibt, sind ein reichhaltiger Katalog (www.stadtmuseum-dresden.de), die Präsentation der Dresdner Objekte in der Online-Datenbank der Museen der Stadt Dresden (www.dresden-collection-online.de) und eine interaktive Karte mit Orten der Dresdner Tabakindustrie (www.tabakstadt-dresden.de)

Ausstellungsplakat
Blick in die Ausstellung „Tabakrausch an der Elbe“ im Stadtmuseum Dresden (16. April bis 1. August 2021)

Globalisierte Moderne

Fixpunkt der Ausstellung waren Tabakwaren als Massenkonsumgut, insbesondere die „deutsche Orientzigarette“. Davon ausgehend entfaltete sich ein Panorama der Industrie- und Kulturgeschichte der globalisierten Moderne. Ausgehend von sich ändernden Tabakkulturen in Europa wurden die Entwicklung und die Eigenheiten der Industriekultur in der Region Dresden offenbar. Leistungen in Unternehmensführung, Ingenieurswesen und Werbegrafik fanden ebenso Beachtung wie der den Zeitgeist spiegelnde Wandel der Produkte. Berücksichtigt wurde auch die weltweite Verbreitung des Konsums und das aus kolonialem Zwang herrührende Ungleichgewicht zwischen „Nord“ und „Süd“. Zeitspezifische Entwicklungen fanden ebenso Berücksichtigung wie die Geschlechterhierarchie in der Fabrik – eine Eigenheit von Branchen mit dominierender Frauenarbeit im Industriezeitalter.

Dresden war mit zeitweise über 200 Zigaretten- bzw. Zubehörfabriken, den Fachblättern und Industrieverbänden ohne Frage die deutsche Zigarettenhauptstadt. Jedoch nicht nur das. Nach 1900 entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum der Lebensreform in Europa. Hier gelang erstmals der wissenschaftliche Nachweis für die Gefahren des Tabakkonsums, was in die Gesundheitskampagnen des Deutschen Hygiene-Museums und die Medizin Eingang fand. In Dresden-Leubnitz entstand eine Wohnsiedlung der Alkohol- und Tabakgegner mit dem Sitz des Bundes deutscher Tabakgegner.

Ausstellungskurator Dr. Holger Starke mit Besucherinnen der Dresdner Museumsnacht 2021

Mammutprojekt zum Jahr der Industriekultur

Ursprünglich als Beitrag zum Jahr der Industriekultur in Sachsen 2020 gedacht, konnte die Schau in Dresden aufgrund der Corona-Pandemie erst verspätet und verkürzt öffnen. Terminverschiebungen und Ausweichen auf Online-Angebote waren an der Tagesordnung. Das Publikum kam nach Ende der Beschränkungen erst allmählich wieder in die Museen. Der grandiose Abschlusstag in Dresden war dann der Höhepunkt ansteigenden Besucherinteresses, wie es sich in Chemnitz 2022 zeigte. Somit war das Gemeinschaftsprojekt nicht nur ressourcenschonend, sondern der Erfolg entschädigte auch alle Beteiligten, die mit Ideen und Herzblut das Mammutprojekt umgesetzt haben.

Eintrag im Gästebuch des Stadtmuseums Dresden
Eröffnung der Ausstellung am 7.4.2022 im Industriemuseum Chemnitz, Foto: Bianca Ziemons

Eine Fachgruppe aus Museum und Stadt, Wissenschaft und Industrie hatte die aufwändige Vorbereitung betrieben, parallel zu laufenden Arbeiten oder im Ehrenamt. Privatleute, Unternehmen und zahlreiche öffentliche Einrichtungen in Europa sowie Expertinnen und Experten leisteten bereitwillig Unterstützung. Das Militärhistorische Museum Dresden, die f6 Cigarettenfabrik und Universelle Hamburg begleiteten mit Muskelkraft, Knowhow und schwerer Technik die Transporte von Großobjekten.

Großtransport mit Unterstützung des Militärhistorischen Museums Dresden

Am Jahresende 2022 schloss im Sächsischen Industriemuseum Chemnitz die zweite Station der in Kooperation mit dem Stadtmuseum Dresden entstandenen Sonderausstellung ihre Pforten. Kuratiert von Holger Starke unter Mitwirkung der Co-Kuratorin Constanze Treue, zeichnete Alexander Clauß (Dresden) für die Gestaltung verantwortlich. In Chemnitz bereicherte Co-Kuratorin Barbara Würnstl die Schau mit einem Teil zur Zigarrengeschichte Sachsens. Das Projekt bildete den Abschluss der Ausstellungstrilogie zur „Genuss(mittel)-Metropole“ Dresden, die über das „Bierselige Land“ (1996) und die „Schokoladenstadt Dresden“ (2013) geführt hatte. Großzügige Förderung fanden zwei der drei Vorhaben bei der Sächsischen Landesstelle für Museumswesen.

Ein bierseliges Land. Aus der Geschichte des Brauwesens von Dresden und Umgebung, hrsg. vom Stadtmuseum Dresden und dem Sächsischen Brauerbund e. V., fliegenkopf verlag, Halle/S. 1996.
Schokoladenstadt Dresden. Süßigkeiten aus Elbflorenz, hrsg. von Erika Eschebach und Holger Starke, edition Sächsische Zeitung, Dresden 2013.
Tabakrausch an der Elbe. Geschichten zwischen Orient und Okzident, hrsg. von Holger Starke, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020.

Für das opulent ausgestattete, von Uwe John (Leipzig) redigierte Begleitbuch aus dem Michael Imhof Verlag steuerte eine auf drei Kontinenten lebende Autorenschaft ihre Erkenntnisse bei. Die Ernst von Siemens Kunststiftung förderte die Publikation. Am Lehrstuhl Kartografie der TU Dresden entstand als Diplomarbeit eine interaktive digitale Karte, in die Forschungen des Museums und des Johannstadt-Archivs Eingang fanden (www.tabakstadt-dresden.de). Das Projekt dreier Berliner Künstlerinnen „Salem Aleikum Dresden“ machte auf postkoloniale Aspekte aufmerksam (www.blog-stadtmuseum-dresden.de/whataboutorientalism). Zugänge für jüngere Kreise entstanden vor allem am Bereich Bildung und Vermittlung im Haus, hierbei zeitgenössische Diskurse aufgreifend.

Themenspuren auf Postkarten zu den Schwerpunkten „Orient“, „Sie“ und „Innovation“
Tastmodell der ehemaligen Zigarettenfabrik „Yenidze“ in Dresden

Fachvorträge (www.youtube.com) und Rundgänge fanden Ergänzung in Stadtführungen ortsansässiger Fachleute in den Fabrikvierteln in Plauen und Johannstadt sowie in der Tabakgegner-Siedlung in Leubnitz-Neuostra.

Mitglieder der Tabakgegnersiedlung in Leubnitz-Neuostra
Häuser der ehemaligen Tabakgegnersiedlung in Leubnitz-Neuostra

Aktualität

Doch wozu der ganze Aufwand? Ist die Geschichte des Tabaks nicht eine Story von gestern? Muss man denn – so ein zuweilen geäußerter Vorwurf – die Jugend wirklich mit den Geschichten um ein bekanntermaßen gesundheitsschädliches Produkt bekanntmachen? Befördert man damit nicht die Tabaksucht? Alles überlegenswerte Fragen, die bedacht werden müssen und die bedacht worden sind. Was die zwei Museen aber letztlich eher dazu ermutigt hat, sich hiermit zu beschäftigen. Denn Geschichte bleibt nicht ungeschehen, wenn man über sie schweigt oder sie nur einseitig betrachtet. Sie tritt dann nur zur Unzeit und mit ungeahnter Richtung wieder hervor. Dies gilt ganz besonders für die Geschichte einer Kulturpflanze, die seit einem halben Jahrtausend das Leben vieler Menschen auf der Welt beeinflusst hat. Für Sachsen und Dresden gilt dies im Industriezeitalter im Besonderen.

Blick in die Chemnitzer Ausstellung, Foto: Bianca Ziemons

Zumal es wohl kaum ein Produkt gibt, auf dessen Geschichte man aus so unterschiedlichen Perspektiven über eine so lange Zeit schauen kann. Wie aktuell dies ist, zeigt nicht nur das Interesse von Hochschulen in Chemnitz und Leipzig, an denen sich Studierende zwei Aspekten der Ausstellung zuwenden (wollen): Postkolonialismus bzw. Kulturgeschichte des Rauchens. Und in der Schweiz läuft derzeit die Sonderausstellung „Rausch – Extase – Rush“ am Bernischen Historischen Museum (www.bhm.ch)