Gastbeitrag von Stefan Schwarz

Der Beitrag ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Stefan Schwarz Foto: ©HATiKVA e. V.

Zur Person:

Stefan Schwarz stammt aus Zittau und studierte Mittelalterliche Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Geografie an der TU Dresden. Seit 2010 ist er Mitarbeiter und Projektleiter bei HATiKVA, Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e.V., aktuell im Projekt „Gibts doch gar nicht … – Sensibilisierung für antisemitische Einstellungen und Diskriminierungen in der Gegenwart“.

Gibt es besondere didaktische oder methodische Anforderungen für das Thematisieren von jüdischer Geschichte?

Fragen, wie wir über (jüdische) Geschichte reden, wie wir sie darstellen und wie sie unser Denken beeinflusst bzw. wie unser Denken unser Bild von Geschichte formt, führen immer wieder zu kleinen und großen Diskussionen in der Öffentlichkeit. Die Bandbreite reicht dabei von historischen Fachdebatten bis hin zu politisch-gesellschaftlichen Fragen über das Verhältnis Deutschland und Judentum, über deutsche und jüdische Kultur, über Zugehörigkeit, Vielfalt und Teilhabe. Vor allem beim Thema der Erinnerungskultur, also der Frage, wer erinnert an was, für wen und warum, zeigen sich immer wieder hohes Diskurspotential und gesellschaftliche Sprengkraft. Als Beispiel seien die Arbeiten des Soziologen Y. Michal Bodemann (Gedächtnistheater, Hamburg 1996) und der von ihm geprägte, von Max Czollek aktuell (Desintegriert Euch!, München 2018) wieder aufgegriffene Begriff des „Gedächtnistheaters“ genannt; oder auch – quasi als Negativfolie – die immer wieder aufflammende „Schlussstrichdebatte“, die im Januar 2022 wieder durch einen bei der sächsischen Konrad-Adenauer-Stiftung gehaltenen und in der FAZ publizierten Vortrag von Wolfgang Reinhard aufgewärmt wurde.

Die alles zeigt, dass didaktische und methodische Überlegungen zum Themenfeld jüdische Geschichte mehr Dimensionen umfasst, als nur eine pädagogische oder historische: Sie ist in hohem Maße politisch und provoziert eben nicht nur Antworten zur Geschichte, sondern auch zu aktuellen Debatten und gesellschaftlichen Verhältnissen.

Das spielt bei den folgenden Überlegungen eine große Rolle. Diese wurden vor allem vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen getroffen. Obwohl sich eine Didaktik stets an einer spezifischen Zielgruppe orientiert, besitzen die hier angesprochenen Punkte für die Vermittlung von jüdischer Geschichte meiner Meinung nach über diese spezielle Zielgruppe hinaus Gültigkeit.

Führung auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in Dresden, Fozto: ©HATiKVA e. V.

Wer weiß denn was?

Zunächst ist zu bedenken, dass man unabhängig von der Art der Vermittlung – etwa  im Kontext Schule, in einem Museum, bei einer Fortbildung oder einer Kulturveranstaltung – grundsätzlich von sehr unterschiedlichen Vorkenntnissen zu jüdischer Kultur, Religion und Geschichte bei den Teilnehmenden ausgehen muss. Ganz unterschiedlich ist auch die Verbreitung von Vorurteilen, Klischees und Ressentiments bzw. die Möglichkeit, diese zu reflektieren. Außerdem sind Aspekte diversitätssensibler Bildung zu beachten. So sollte man sich etwa bewusst machen, dass man grundsätzlich nicht nur Bildung „über Juden“ für Nicht-Juden macht, sondern natürlich auch Jüdinnen und Juden unter den Teilnehmenden sein können, die gleichberechtigt am Bildungsprozess teilhaben sollten. Relevant ist auch, ob und wie sich jüdische Teilnehmende einbringen können und wollen.

Für einen großen Teil der Menschen in Sachsen kann man davon ausgehen, dass sie nur wenige Gelegenheiten für eine Begegnung mit Jüdinnen und Juden oder jüdischer Kultur und Religion haben. Unter den vier Millionen Einwohnern Sachsens gibt es gerade einmal rund 2.500 Mitglieder jüdischer Gemeinden, in der gesamten Bundesrepublik sind es etwa 95.000 Menschen. Jüdische Geschichte und Gegenwart vor Ort ist so den wenigsten Menschen bewusst, was eine Wahrnehmung des Judentums als fremd verstärkt, zumal Vorbilder für die Aneignung jüdischer Geschichte im lokalen Umfeld meist fehlen.

Gleichzeitig ist Judentum als abstraktes, unkonkretes oder übergeordnetes gesellschaftliches Thema sehr präsent. Häufig nehmen verschiedenste politische und gesellschaftliche Akteur*innen Bezug auf das Judentum, es besteht eine breite öffentliche Erinnerungskultur zur Shoah und antisemitische Vorfälle tauchen oft in den Medien auf. Der Widerspruch von relativ geringem Wissen und sehr präsenter und selbstbewusster Meinung verstärkt auf individueller Ebene Unsicherheiten im Umgang mit dem Thema und führt zu Vorurteilen, Klischees und Ressentiments. Zudem verstärkt er jene Wahrnehmung von Judentum und jüdischen Menschen als Kollektiv und als fremd. Die Vielfalt innerhalb des Judentums sowie die Individualität von Jüdinnen und Juden gerät dabei aus dem Blick. Vielmehr werden „die Juden“ als „die Anderen“ ständig „den Deutschen“, einem „Wir“, dem implizierten „Normalen“ gegenübergestellt. Dies legt den Nährboden für antisemitisches „Wissen“ und entsprechende Deutungen.

Einen nicht unerheblichen Teil ihres Vorwissens zum Judentum erwerben Menschen bis heute in der Schule, insbesondere im Ethik- und Religionsunterricht. Dort findet eine Begegnung mit dem Judentum vor allem im Zusammenhang mit Religion als ein Kennenlernen von Festen, Feiertagen, der Räume für den Gottesdienst etc. statt. Lehrpläne und -materialien gehen dabei oft von einem christlich geprägten Umfeld aus, das so oft gar nicht mehr gegeben ist. Das Judentum wird dabei vor allem als eine in der Geschichte unveränderliche Religion vermittelt, die entweder aus christlicher Sicht oder in einem Vergleich zum Christentum oder anderen Religionen betrachtet wird. Der Fokus liegt dabei oft auf religiösen Jüdinnen und Juden sowie vor allem auf einer orthodoxen Religionspraxis, die dazu häufig vereinfacht und nicht selten falsch dargestellt wird. Die liberale Tradition des Judentums wird oft genauso wenig thematisiert wie säkular lebende Jüdinnen und Juden, die ihre jüdische Identität vor allem kulturell verstehen oder Judentum als Volk bzw. Nationalität begreifen. Statt der Vielfalt an religiösen und kulturellen Praktiken, Einstellungen und Wegen des Judentums, erscheint es monolithisch und fremdartig (s. Gunda Ulbricht: „Warum hat Ihre Moschee kein Kreuz?“ Die Neue Synagoge Dresden als außerschulischer Lernort, in: Markus Tiedemann (Hg.): Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und philosophische Bildung, Berlin 2021, S. 323–337).

Wer erinnert an was?

Auch die deutsche Erinnerungskultur ist in diesem Zusammenhang problematisch. Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass nicht Jüdinnen und Juden als tatsächliche Personen im Mittelpunkt des Interesses stehen mit dem Ziel, jüdische Pluralität abzubilden, sondern „die Juden“ in ihrer Rolle als symbolische Vertreter*innen der Vernichteten. Ziel ist dabei, das Versprechen auf Versöhnung für die Deutschen einzulösen. Nur in dieser Funktion sei Platz für Jüdinnen und Juden auf der „Bühne“. Nach Y. Michal Bodemann besteht das „Gedächtnistheater“ aus drei Elementen:

(1) Der Inszenierung des Gedenkens als dramatischem Akt, in dem vor allem die Täter*innen und ihre Nachfahren als geläutert dargestellt werden,

(2) der Trauer über einen solidaritätsstiftenden Akt brutalster Gewalt und

(3) der kollektiven Stiftung eines neuen Selbstbildes als geläuterte und befreite Deutsche (Czollek, Desintegriert Euch!, S. 24).

Was ist also wichtig bei der Vermittlung von jüdischer Geschichte?

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus alledem ziehen? Zum einen sollte auch bei historischen Darstellungen  aktuelles jüdisches Leben mindestens einen Teil der Darstellung einnehmen, um trotz historischer Brüche Kontinuitäten aufzuzeigen. Um dabei mit der Differenz zwischen den Realitäten jüdischen Lebens in Deutschland und dem davon verbreiteten Bild mit seinen vielen Klischees zu überwinden, sollte auf Rückbindung an die eigene Region oder Stadt, die Wahrung der biografischen Integrität von Zeitzeug*innen, die nicht in Gruppen subsumiert werden sollten, als auch auf möglichst individuelle Sichtweisen und Beiträge von Mitarbeiter*innen, Teilnehmer*innen etc. geachtet werden. Vor allem regionale und lokale jüdische Geschichten zeigen die Verwerfungen und Widersprüchlichkeiten historischer Prozesse sowie die Unverfügbarkeit der Einzelnen für Identitätskonstrukte, denn es „waren weder die Juden noch nur Juden, sondern Menschen, für die das Jüdische eine ganz unterschiedliche Rolle in ihrem Leben spielte“ (Ulbricht, Mosche, S. 336). So stark wie möglich sollte darauf geachtet werden, ein bloßes Von-außen-auf-„die-Juden“-Schauen zu vermeiden.

Die größere Rolle in der Darstellung muss deshalb der Betonung der Gemeinsamkeiten statt der Unterschiede zukommen. Jüdische und nichtjüdische Geschichte liefen nicht unabhängig parallel voneinander ab, sondern das Leben von Jüdinnen und Juden war und ist immer Teil der allgemeinen, also „unserer“ aller Geschichte. Die enge Verschränkung von jüdischer und nichtjüdischer Geschichte, Kultur und Tradition ist oft nicht bewusst. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen hebräischen Begriffe und Hebraismen, die ganz selbstverständlich und unbewusst von den meisten Menschen im alltäglichen Leben benutzt werden (siehe dazu: Andreas Nachama: „Jiddisch im Berliner Jargon oder Hebräische Sprachelemente im deutschen Wortschatz“, Berlin 2000).

Beim Thematisieren von jüdischen Festen, Feiertagen und Symbolen kann z. B. statt eines reinen Erklärens der Unterschiede auch die identitätsstiftende Funktion von Festen in der Lebenswelt aller Menschen oder eine Diskussion über die Verwendung und Wirkung von Symbolen innerhalb und außerhalb von Religionen behandelt werden. Statt etwa nur über die Bedeutung des Davidssterns zu referieren, kann eine Diskussion darüber, wie und warum sich Menschen mit Symbolen identifizieren und warum sie sich bei deren Missachtung oder Missbrauch beleidigt fühlen, viel ergebnisorientierter sein.

Besondere Anforderungen ergeben sich bei Themen, die innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaften zum Teil kontrovers diskutiert werden; zum Beispiel der Nahostkonflikt oder die Beschneidungsdebatte Hier sollte ein entsprechender Rahmen geschaffen werden, der Emotionen auffangen kann, Ambiguitäten zulässt und der Komplexität der Themen gerecht wird.

Letztlich ist jüdische Geschichte nie „nur“ jüdische Geschichte. Sie bietet nicht nur Erklärungen zum Judentum, denn auch die Identitäten von Jüdinnen und Juden definieren sich natürlich auch über Klasse, Stand, Gender, Alter, Wohnort, sozioökonomischem Status etc. Sich nur auf einen Aspekt einer Quelle oder einer Person zu konzentrieren, schränkt den historischen Erkenntnisgewinn genauso ein, wie Menschen generell nur unter einem Aspekt ihrer Identität oder in Gruppenkategorien zu begreifen. So benennt das Dresdner Judenregister aus dem 18. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen Quellen dieser Zeit auch die Armen mit Familienstand und Beruf. Es liefert damit zusätzlich einen einmaligen sozioökonomischen Einblick in die gesamte damalige Stadtgesellschaft (vgl. Ulbricht. S. 335).

Bei alledem muss besonders der unbeabsichtigten Reproduktion antisemitischer Stereotype entgegengewirkt werden. Neben der ständigen Gegenüberstellung von „Juden“ und „Deutschen“, die letztlich eine stetige Exklusion der Jüdinnen und Juden aus der deutschen Gesellschaft sprachlich manifestiert, gilt es vor allem, deren Wahrnehmung als historische Objekte, als „Mitbürger“ und „Anhängsel“ der Deutschen zu thematisieren, deren einzige Funktion in der Geschichte darin bestand, ständig verfolgt worden zu sein. Es sind gerade solche Vorstellungen, die unbewusst stets die Frage provozieren, warum denn immer die Juden verfolgt würden und die mit bewirken, dass auf heutigen Schulhöfen „Jude“ und „Opfer“ als synonyme Schimpfwörter immer noch Verwendung finden. Auch wenn viele Quellen oft nur über die Konflikte Auskunft geben, so sollte auch stets deutlich gemacht werden, dass den Pogromen und Verfolgungen auch immer relativ lange Phasen friedlichen Zusammenlebens, von „concivilitas“, gegenüberstehen.  Hüten sollte man sich zudem davor, stets ausschließlich einzelne jüdische Persönlichkeiten und ihre Leistungen herauszustellen, weil sich dadurch nicht selten das verbreitete Vorurteil vom „reichen“ und „einflussreichen Juden“ verbreitet.

Projektarbeit in den Räumen von HATiKVA e. V., Foto. ©HATiKVA e. V.