Gastbeitrag von Daniel Ristau
Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.
Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte
Edith Schriefl hat in Dresden und Havanna Geschichte, Spanisch und Deutsch als Zweitsprache studiert. 2019 legte sie eine Promotion zum sächsischen Landtag nach 1945 vor. Nach einer zweijährigen Zwischenstation als wissenschaftliche Volontärin am Haus der Geschichte Bonn, Leipzig und Berlin arbeitet sie seit April 2021 am Institut für Landesgeschichte am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie (LDA) Sachsen-Anhalt in Halle (Saale) zur jüdischen Geschichte Sachsen-Anhalts.
(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?
Ich finde die Idee sehr gut, wenn darunter auch ein dezentraler, liquider, vielleicht auch hybrider Ort gefasst wird, der sich interaktiv und durchlässig mit der Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens befasst. Zudem begrüße ich den regionalen Zugang, der dem Thema automatisch seine Abstraktheit nimmt und außerdem vor einer monothematischen Ausrichtung bewahren könnte. Ich finde, die jüdische Geschichte und Gegenwart sollte gerade in Ostdeutschland in ihren regionalen Besonderheiten, ihrer Heterogenität und Vielgestaltigkeit weiter aufgearbeitet, gebündelt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Denn hier ist das Angebot derzeit noch begrenzt und es bestehen ja leider gerade in den „neuen“ Bundesländern noch viele Vorurteile und auch Forschungslücken.
Gleichzeitig finde ich es wichtig, die im Freistaat Sachsen und den benachbarten Bundesländern vielfältigen bestehenden Angebote, die eine solche Forschungs- und Vermittlungsarbeit bereits leisten, von Beginn an mit einzubeziehen, sodass sie beispielsweise von einer zentralen Bündelung und Koordinierung profitieren und nicht verdrängt werden. Akteur:innen, die mir beispielswiese in Sachsen-Anhalt und Thüringen in den Sinn kommen, sind das Museum Synagoge Gröbzig, das Berend-Lehmann-Museum in Halberstadt und die Alte Synagoge Erfurt. Solche Orte sollten mit ihren unterschiedlichen Qualitäten konzeptionell bedacht werden.
(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?
Bei der Frage des Ortes halte ich wie gesagt eine hybride und möglichst flexible Lösung für richtig. Beispielsweise könnten in einer oder mehreren größeren Städten Koordinierungsstellen eingerichtet werden, die die vielen bestehenden Angebote in Sachsen bündeln, mit Ressourcen ausstatten, bewerben und beraten, die aber gleichzeitig als Orte der Begegnung selbst Raum für regionale Forschungs- und Vermittlungsprojekte bieten – und natürlich auch für analoge und digitale Ausstellungen. Wichtig wäre meiner Meinung nach, dass solche „zentralen“ Stellen möglichst flexibel, adaptiv und zu einem gewissen Grad auch mobil agieren. Ein Museum im klassischen Sinne an einem festen Ort mit einer Dauerausstellung, in der die „Fakten“ präsentiert werden, würde meines Erachtens weder inhaltlich dem Thema noch methodisch den Anforderungen unserer Zeit entsprechen.
(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?
Einerseits bin ich dafür, möglichst multiple jüdische Identitäten und Lebensentwürfe in der Region darzustellen, hierfür bietet sich ein biografischer Zugang an. Zudem sollten die vielen regional verstreuten materiellen Hinterlassenschaften wie beispielsweise jüdische Friedhöfe, (ehemalige) Synagogen und Kaufhäuser gewürdigt und einbezogen werden, denn sie erzählen oft die interessantesten Geschichten. Andererseits sollten diese regionalen Gegebenheiten möglichst auch in größere kulturelle, geografische, ökonomische und politische Zusammenhänge eingebettet werden. Die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Ostdeutschland vereint gerade in den Grenzzonen wie kaum eine andere Minderheitengeschichte lokale mit translokalen Themen. In allen Jahrhunderten war sie auch eine Geschichte der Migration, der Flucht, aber auch der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Vernetzung. Zugleich bot das Jüdischsein stets auch Raum für lokale Identitäten, die sich wiederum auf die Gegebenheiten vor Ort auswirkten. So wurden beispielsweise viele Dialekte vom Jiddischen geprägt, während das gesprochene Jiddisch oft dialektal gefärbt war. Auch solche immateriellen Überlieferungen sollten unbedingt ihren Platz erhalten.
Auch eine Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit nach 1945 erscheint mir wichtig. Lange Zeit wurde die deutsch-jüdische Geschichte im Mainstream so dargestellt, als endete sie mit dem Holocaust. Das ist natürlich nicht der Fall, denn bereits kurz nach 1945 gründeten sich auch in Sachsen jüdische Gemeinden neu. Zudem gilt bis heute oft noch die Vorstellung, es habe, wenn überhaupt, nur in der Bundesrepublik wieder „wirklich“ jüdisches Leben gegeben. Dass auch in der DDR jüdische Identitäten vielfach gelebt wurden, geht häufig in dem Narrativ unter, der Staat habe religiöse Tendenzen grundsätzlich unterdrückt. Aber erstens ist Jüdischkeit nicht immer mit Religiosität gleichzusetzen und zweitens gab es auch viele (religiöse und nicht-religiöse) Jüdinnen und Juden, die sich vor allem in frühen Jahren mit der DDR identifizierten. Wichtig wäre aus meiner Sicht außerdem eine Thematisierung der Veränderung deutsch-jüdischen Lebens in den 1990er-Jahren, wo dank der so genannten Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion viele ostdeutsche Gemeinden aufblühten oder sogar neu gegründet wurden. Hier fehlt es noch an systematischer Forschung, ganz zu schweigen von einer produktiven Vermittlungsebene.
Zudem sollten meines Erachtens die vielfältigen diskursiven Anschlussmöglichkeiten unbedingt genutzt werden. Dazu zählen beispielsweise die Beziehung von Dominanz- und Minderheitengesellschaften, die Problematik des häufig strukturell und institutionell angelegten Antisemitismus und Rassismus sowie die Frage, wie wir weiter an einer möglichst offenen, pluralen Gesellschaft arbeiten können, in der Minderheiten besonderen Schutz erfahren.
(4) Wer soll erreicht werden?
Das Museum sollte versuchen, ländliche Regionen gezielt zu erreichen. Auch Schulen und Ausbildungsinstitute, beispielsweise der Polizei, sollten als Zielgruppen einen besonderen Stellenwert erhalten. Daneben halte ich es für wichtig, migrantische Gruppen sowie (weitere) religiöse und ethnische Minderheiten einzubeziehen und zu adressieren. Für die Erinnerung an jüdisches Leben in Deutschland und Europa in der Zeit vor dem Holocaust sind auch bzw. insbesondere Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden zuständig – anders geht es auch nicht. Gleichzeitig sollte der Ort aber auch so beschaffen sein, dass sich auch Jüdinnen und Juden als Besucher:innen angesprochen fühlen.
(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?
Da ich erst kürzlich darauf gestoßen bin, möchte ich eine Postkarte nennen, die sich in der Sammlung des musée d’art et d’histoire du Judaïsme (mahJ) in Paris befindet. Sie wurde im September 1899 aus Dresden nach Montmorency (Val-d’Oise) als Glückwunschkarte für das jüdische Neujahr verschickt und trägt auf der Vorderseite ein sehr interessantes Motiv: Links sind Maître Labori, in der Mitte Alfred Dreyfus in Hauptmannsuniform und rechts Maître Demange abgebildet. Alle drei Herren waren Protagonisten in der so genannten Dreyfus-Affäre, die Ende des 19. Jahrhunderts Frankreich erschütterte. Der jüdische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus war wegen angeblichen Landesverrats, jedoch tatsächlich auf Grundlage eines zunehmend offenen Antisemitismus verurteilt worden. Die Postkarte wurde kurz nach der Begnadigung von Dreyfus versandt und ist ein Symbol der überregionalen Solidarität mit Dreyfus. Ähnliche Postkarten finden sich im mahJ auch aus Görlitz und Leipzig.
(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?
Zwei nächste Schritte wären vermutlich zum einen die Klärung der Konzept- und zum anderen die Klärung der Finanzierungsfrage. Für ersteres wäre es meiner Ansicht nach gut, einen offenen Prozess zu initiieren, in dem sich ausgewählte Akteur:innen aus allen möglichen Richtungen und Sparten austauschen: Kurator:innen, Wissenschaftler:innen, Pädagog:innen, Expert:innen der politischen Bildung, Künstler:innen, vielleicht auch Schüler:innen und natürlich Jüdinnen und Juden, wenn diese nicht schon in den professionellen Sparten vertreten sind.