Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Léontine Meijer-van Mensch (GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig/Tom Dachs)

Zur Person:

Léontine Meijer-van Mensch wurde in den Niederlanden geboren. Zusätzlich zu ihrem Studium der Geschichte und Jüdischen Studien in Amsterdam, Jerusalem und Berlin studierte sie Schutz Europäischer Kulturgüter (Schwerpunkt Museologie) in Frankfurt an der Oder. Sie arbeitete u. a. am Joods Historisch Museum (Jüdisches Historisches Museum) Amsterdam und war von 2017 bis 2019 Programmdirektorin und stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums Berlin. Seit 2019 ist sie Direktorin der Völkerkundemuseen in Dresden, Leipzig und Herrnhut.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Ich finde es sehr gut, dass immer wieder jüdische Geschichte, Kultur und Gegenwart thematisiert wird. Ich bin allerdings etwas skeptisch, ob das in einem „Jüdischen Museum“ sein sollte, das dafür auch gegründet werden muss. Vielleicht muss man viel stärker dezentral und in Kooperationen denken, die dann auch über die drei großen Städte hinausgehen und Sachsen in der Fläche wie auch in seiner transnationalen Einbettung in den Blick nehmen. So eine Form müsste nicht nur Museen, sondern auch ganz viele andere Institutionen einschließen, insbesondere solche der Erinnerung, also Archive, Bibliotheken und Gedenkorte, aber auch Denkmäler, Vereine und gesellschaftliche Initiativen. In dieser Hinsicht rücke ich immer weiter ab von der Idee eines „Jüdischen Museums“, weil es so eine starke Verflechtungsgeschichte ist. Jüdische Geschichte – nicht nur in Sachsen – ist so stark verflochten, dass sie in einem solchen Museum als zentralisiertem Ort wohl kaum ausreichend dargestellt werden kann. Vermutlich muss man viel stärker transdisziplinär und transinstitutionell denken.


(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Da kann ich direkt an das eben Gesagte anknüpfen: Sie soll idealerweise immer und überall sichtbar sein. Allerdings brauchen wir in Sachsen einen Ausgangspunkt – das kann beispielsweise ein Themenjahr oder eine Landesausstellung sein. Allerdings sollten solche Projekte nicht nach einem Jahr einfach abgeschlossen sein, sondern weiterentwickelt werden. Auf diese Weise kann das „Jüdische“, was immer man darunter konkret versteht, in Sachsen von ganz unterschiedlichen Akteur*innen und Initiativen, die voneinander wissen, miteinander vernetzt sind und in ihrer Arbeit aufeinander aufbauen, dauerhaft thematisiert und präsent gehalten werden. Ich würde hier gern alle Museen und sonstigen politisch-öffentlichen Einrichtungen in die Pflicht nehmen, das ernst zu nehmen: Sie sollen nicht einfach irgendwo ein „Jüdisches Museum“ gründen und dann sagen, damit ist es getan und dass sie damit raus aus dieser Geschichte sind.

Ganz viele jüdische Museen sind aufgrund der Bemühungen von Stadtmuseen entstanden, so etwa in Berlin und in Amsterdam. Ich habe in beiden Institutionen gearbeitet, würde aber im Rückblick trotzdem sagen, dass es sicherlich sehr gut gewesen wäre, wenn diese Museen immer auch Teil der stadtgeschichtlichen musealen Verortung geblieben wären. Warum sollte man einen Unterschied zwischen Stadtgeschichte und jüdischer Geschichte machen? Schließlich ist jüdische Geschichte immer Teil der Stadtgeschichte – in Berlin und Amsterdam ebenso, wie in Leipzig, Dresden und Chemnitz sowie vielen anderen sächsischen Orten. Ein separates „jüdisches Museum“ macht Jüdinnen und Juden schon von der Konzeption her zu Anderen, distanziert sie von der nichtjüdischen Gruppe („othering“). Das „Normative“, vermeintlich „Normale“, steht dann dem „Jüdischen“ gegenüber. Allerdings sollte es eben gerade darum gehen zu zeigen, dass das „Jüdische“ eben nicht das „Andere“, sondern dass es gerade auch das „Sächsische“ ausmacht und Teil der sächsischen Geschichte wie Gegenwart ist.


(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Ein Großteil dessen, was in solch einer dezentral vernetzten Struktur zu präsentieren wäre, ist neben materieller Kultur natürlich Erinnerungskultur vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust. Schließlich hilft uns die historische Betrachtung der Mechanismen von Ausgrenzung und Massenmord, ihre Relevanz für die Gegenwart einzuschätzen. Allerdings darf jüdische Geschichte nicht auf Judenverfolgung und Holocaust reduziert werden. So ist etwa auch die Auseinandersetzung mit jüdischem Leben im 19. Jahrhundert notwendig, bei der man sehr schnell merkt, dass wir es mit einer stark transnational geprägten Geschichte zu tun haben: Die jüdische Geschichte Sachsens kann ohne die jüdische Geschichte Böhmens, Schlesiens und ganz generell Ostmitteleuropas kaum ausreichend erklärt werden.

„Beitrags-Geschichten“ sollten dabei unbedingt vermieden und insgesamt kritisch hinterfragt werden: Sich darauf zu konzentrieren, welche „Beiträge“ Jüdinnen und Juden zur Geschichte und Kultur Sachsens geleistet haben – etwa in Musik oder Literatur – ist insofern schwierig, weil man einerseits dann immer auf die außerordentlichen und damit auch außergewöhnlichen Biografien zurückgreift, die andererseits von dem Narrativ begleitet sind, dass es schade sei, dass dieser Beitrag im Nationalsozialismus dann als nicht mehr deutsch oder sächsisch betrachtet wurde. Vielmehr sollten auch Personen, die keinen Nobelpreis gewannen und nicht als Komponisten, Schriftsteller, Fabrikanten etc. wirkten, in der Darstellung repräsentiert sein.

Ich würde außerdem sehr stark dafür plädieren, die Diaspora der Jüdinnen und Juden, die ab 1933 angesichts der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ins Exil gegangen sind, zu thematisieren. Das muss bis in die Gegenwart fortgedacht werden. Was also gibt es in Israel, in den USA und England, aber auch in Südamerika und anderen Orten weltweit an sächsischer Geschichte, die sich dort auch eingeschrieben hat? So ist etwa die Geschichte der Familie Arnhold, deren Nachfahren in den Vereinigten Staaten leben, auch Teil der jüdischen Geschichte Dresdens und Sachsens, die sich durch das Exil zur transnationalen Geschichte weiterentwickelt hat.

Auch die Frage nach dem Verhältnis von Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft sollte Thema sein. Was kann man daraus für die Gegenwart schlussfolgern? Und wie kann jüdische Geschichte auch pars pro toto stehen für die Ausgrenzungserfahrungen und -mechanismen einer Minderheit? Dann reden wir vielleicht gar nicht mehr über jüdische Geschichte, sondern darüber, wie wir in Sachsen mit kultureller Diversität umgehen, warum das nicht immer so einfach ist und dass man sich dazu auch positionieren muss.

Zu guter Letzt muss es natürlich auch um jüdisches Leben heute gehen. Es gibt lebendige jüdische Gemeinden in den drei Großstädten Dresden, Chemnitz und Leipzig. Dieses jüdische Leben ist in gewisser Weise nach wie vor fragil, steht aber auch für die Zukunft von Jüdinnen und Juden in Sachsen. Ich würde also immer auch die Gegenwart mitbetrachten wollen.


(4) Wer soll erreicht werden?

Das ist tatsächlich immer eine zentrale Frage: Für wen ist ein „jüdisches Museum“ da? Ist es für eine jüdische Community/Gemeinschaft gedacht, die da sind, aber überschaubar in der Zahl? Vielleicht sollte es einfach ein kultureller Ort sein, zu dem sich Menschen sowohl biografisch als auch auf anderen Wegen verhalten und in Beziehung treten können. Eine Art „sicherer Ort“ („save space“) könnte entstehen, an dem Menschen über sich selbst etwas erfahren können und in den sie sich auch selbst einschreiben können.

Eine wichtige und große Zielgruppe bilden natürlich immer Jugendliche, die in der Regel nur wenig über Judentum, jüdische Kultur, Geschichte und Gegenwart wissen. Darüber bin ich immer wieder erstaunt. Die meisten von ihnen – und das gilt für die gesamten Besucher*innen – sind selbst nicht jüdisch, fühlen sich also nicht dazu zugehörig. Das ist nicht schlimm, bedarf aber interessanter Bildungs-, Vermittlungs-, Antidiskriminierungs- und Outreach-Programme und anderes mehr. Vor allem das sollte, wenn es doch in irgendeiner Weise einen festen Ort geben würde, eine wesentliche Rolle spielen.

Blick in die Ausstellung „Cherchez la femme. Perücke, Burka, Ordenstracht“ im Jüdischen Museum Berlin 2017 (Léontine Meijer-van Mensch)

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Es gibt ein wunderbares Service aus Meißner Porzellan, das der britische Autor und Künstler Edmund de Waal, den ich sehr schätze und spannend finde, aus der Sammlung der Dresdner von Klemperer-Familie nach deren Restituierung durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) erworben hat. Aufgrund von Kriegseinwirkungen war das Service allerdings zerstört. De Waal hat die japanische Künstlerin Maiko Tsutsumi beauftragt, die Stücke in der traditionellen Kintsugi-Technik wieder zusammenzusetzen, bei der mit goldenem Lack Bruchlinien und Fehlstellen sichtbar sind. Die ganze Geschichte sitzt bei diesen Objekten gleichsam in den „Narben“ und kann so gezeigt werden. Gleichzeitig stehen die Teller für den Blick nach vorn, bei dem Zerbrochenes wieder „geheilt“ wird, ohne das Geschehene zu vergessen: Die „Narben“ bleiben sichtbar und schmerzen auch weiterhin. Hier kamen also Porzellangeschichte, jüdische Geschichte, das Wirken und die Familienbiografie de Waals, japanische Restaurationstechnik und die Geschichte der SKD – auch nach 1945 – in wunderbarer Weise zusammen. Zudem wurden die Objekte im Japanischen Palais, also in den SKD, als Teil einer Installation gezeigt.

Damit steht das Service für all die vielfältigen Aspekte des Themenkomplexes „jüdisches Museum“ und überhaupt für die Frage, was denn ein Objekt überhaupt zu einem „jüdischen“ Objekt macht. Es bündelt gleichsam Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, „Jüdisches“ und „Nichtjüdisches“, Dresdner, sächsische, deutsche und Weltgeschichte.

Porzellanteller aus der Sammlung der Dresdner Familie von Klemperer, die in Kintsugi-Technik wieder zusammengefügt wurden, in der Ausstellung library of exile im Japanischen Palais in Dresden 2019/2020 (Léontine Meijer-van Mensch)


(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Ich würde mir sehr wünschen, dass wichtige Akteur*innen sich vernetzen und nicht gegen- oder nebeneinander arbeiten, sondern miteinander, also das etwa das Stadtmuseum Dresden mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und natürlich unbedingt die jüdischen Gemeinden und Repräsentant*innen Wege der Zusammenarbeit finden. Wie immer auch ein „jüdisches Museum“ aussehen wird, wo auch immer es seinen Standort oder seine Standorte haben wird: Alle müssen sich an einem Tisch setzen und über Inhalte reden. Ich finde es schade, dass man gegenwärtig mehr über Orte, denn über inhaltliche Ideen spricht – und letztere sind in meinen Augen wichtiger, als konkrete Standorte: Was möchten wir eigentlich mit jüdischer Geschichte machen? Warum wollen wir eine solche Einrichtung für Sachsen in Dresden oder Leipzig gründen? Wo liegt die Bedeutung für Sachsen? Antworten darauf werden wir nur finden, wenn wir miteinander reden – auch über Stadtgrenzen hinweg.