Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Dr. Markus Pieper, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Foto: ©SMKT

Zur Person:

Dr. Markus Pieper ist seit September 2021 Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Nach dem Studium der Osteuropäischen Geschichte in Oldenburg, Berlin und Warschau arbeitete er bei der Stiftung Ettersberg in Weimar, beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin und bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, wo er den Arbeitsbereich Gedenkstätten und Erinnerungskultur leitete. 2019 promovierte er an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) mit einer Arbeit zu den deutsch-polnischen Kommunalbeziehungen.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

In Sachsen würde ein solches Museum gleich mehrere Lücken schließen. Es könnte dazu beitragen, die jüdische Geschichte Sachsens als integralen Bestandteil sächsischer Regionalgeschichte begreifbarer zu machen. Gleiches gilt für den kulturellen Sektor. Jüdische Kultur einerseits, aber vor allem auch das Jüdische in der Kultur andererseits erscheinen mir hier wichtige Themen, um deutlich zu machen, welchen Beitrag jüdische Künstler:innen, Architekt:innen, Tänzer:innen, Schauspieler:innen, Schriftsteller:innen und viele andere für unser Kulturerbe und die kulturelle Vielfalt erbracht haben und erbringen. Und nicht zuletzt könnte ein jüdisches Museum eine wichtige Perspektive in unsere Erinnerungskultur einbringen: Erinnern wir in unseren Gedenkstätten an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur und klären wissenschaftlich-historisch über historische Zusammenhänge, Täterkarrieren und politische Strukturen des Nationalsozialismus auf, so könnte uns ein jüdisches Museum darüber hinaus auch sehr viel deutlicher erfahrbar machen, welchen ungeheuerlichen menschlichen und kulturellen Verlust Deutschland und Europa durch die Schoah erlitten haben. Dafür wäre ein solcher Ort, an dem wir lernen können, was jüdisches Leben vor (und nach) dem Völkermord ausmacht, ideal.

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Unabhängig von dem konkret auszuwählenden Standort des Museums halte ich es für enorm wichtig, dass ein solches Haus sachsenweit und vor allem auch im ländlichen Raum agieren kann. Dies sollte in die konzeptionellen Überlegungen von Anfang an einbezogen werden, um neben der eigentlichen Ausstellung im Museum selbst auch Formate mitzudenken, die über den eigentlichen Standort hinauswirken. Eine solche Institution sollte in die Lage versetzt werden, durch Veranstaltungen, Wanderausstellungen und auf die einzelnen Regionen zugeschnittene Angebote möglichst breite Teile der Bevölkerung sachsenweit anzusprechen.

(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Einerseits würde ich mir eine umfassende Darstellung jüdischer Geschichte und Kultur in Sachsen wünschen, um die oben genannten Lücken zu schließen und diesen leider oftmals in Vergessenheit geratenen Teil unserer Geschichte prominent zu präsentieren. Es ginge hier also einerseits um ein „klassisches“ Museumsangebot. Genauso wichtig scheint mir jedoch, mit einer solchen Institution andererseits auch dazu beizutragen, dass jüdisches Leben in unserem Alltag sichtbarer wird. Wünschenswert wären Begegnungsangebote ähnlich derer, die die jüdischen Gemeinden oder auch Institutionen wie das Leipziger Ariowitsch-Haus seit Langem und sehr erfolgreich anbieten. Ich glaube, von solchen wichtigen interreligiösen und interkulturellen Austauschangeboten kann der Freistaat noch sehr viel mehr gebrauchen. 

(4) Wer soll erreicht werden?

Sachsenweit eine möglichst breite Öffentlichkeit, um nicht nur die kulturell interessierten Großstädter zu erreichen, sondern auch Menschen, die fernab der Zentren mit ihren kulturellen Angeboten und dem dort sichtbaren jüdischen Leben wohnen.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Auch wenn das vielleicht nicht Ihre Frage beantwortet, denke ich dabei gar nicht unbedingt an ein Objekt im Sinne eines Ausstellungsexponates, das in einer Vitrine im Museum gezeigt und mit Objektbeschriftungen präsentiert wird. Vielleicht auch qua Amt kommen mir als erstes auch die Orte der Verfolgung jüdischer Menschen in Sachsen in den Sinn, allen voran die einst sogenannten Judenhäuser, die es in den größeren Städten gab, und die sehr oft die letzten Orte jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger waren, bevor sie in Zwangsarbeits-, Konzentrations- oder schließlich Vernichtungslager deportiert wurden. Diese Orte sind oftmals noch im Stadtbild als Wohn- oder Geschäftshäuser sichtbar, sie befinden sich also mitten in unserem Alltag und werden von vielen Menschen sozusagen im Vorbeigehen wahrgenommen. Es gibt also viele potenzielle „Exponate“ eines Jüdischen Museums über ganz Sachsen verteilt, die es noch zu entdecken und als Erinnerungsort kenntlich zu machen gilt.

Von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten betriebene oder geförderte Erinnerungsorte im Freistaat Sachsen, Abb.: ©Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Erfolgreich geschehen ist dies beispielsweise in der Bautzener Straße 20 in Dresden. Hier gibt es seit drei Jahren eine Ausstellung, die am Haus und im Eingangsbereich zum Hinterhof die Geschichte des Hauses, vor allem aber die Geschichte der Menschen erzählt, die dort lebten bzw. leben mussten. Solche Formen der Vermittlung und Erinnerung sollten verstärkt dort stattfinden, wo einst Unrecht geschah, mitten unter uns in der Gesellschaft, und sich nicht auf einzelne Gedenkstätten oder Museen beschränken. In diesem Sinne wäre es denkbar, dass ein Jüdisches Museum in Sachsen auch in dieser Hinsicht neue Impulse für unsere Erinnerungskultur bringen kann. Denn auch wenn jüdisches Leben, Kultur und Alltag eine zentrale Rolle im zukünftigen Museum spielen sollten, ist die Schoah aus unserer gemeinsamen Geschichte natürlich nicht wegzudenken.

Von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten geförderte Ausstellung in der Bautzner Straße 20 in Dresden, Foto: ©Stiftung Sächsische Gedenkstätten

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Die Debatte selbst ist bereits enorm wichtig. Es kann bei einem derartigen Projekt nicht nur darum gehen, Expertenmeinungen einzuholen und umzusetzen, sondern die Einbeziehung einer möglichst breiten Öffentlichkeit spielt eine enorm große Rolle. Wenn sich die sächsische Zivilgesellschaft bereits frühzeitig – gerne auch kontrovers – mit der Frage auseinandersetzt, wie ein solches Museum aussehen sollte, wo ein geeigneter Standort wäre, welche Inhalte relevant sind, wofür wir ein solches Museum brauchen, dann haben wir bereits eines der Ziele eines solches Hauses erreicht, bevor es überhaupt eröffnet hat: nämlich dass sich die Gesellschaft mit jüdischer Geschichte, Kultur und ihrer Rolle in unserem Gemeinwesen auseinandersetzt.