Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Marion Kahneman, Foto: Susanne Ludwig

Zur Person:

Die freischaffende Künstlerin Marion Kahnemann studierte von 1981 bis 1986 an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. In den 1990er- und 2000er-Jahren hielt sie sich zu Arbeits- und Studienzwecken mehrfach im Ausland auf, so u. a. in Israel, der Schweiz und Norwegen. In Dresden gestaltete sie u. a. den Brunnen „Zwergenschatz“ im Innenhof des Elsa-Fenske-Heims, ein Denkmal für die Deportationen der Dresdner Jüdinnen und Juden am Neustädter Bahnhof und „Drei Denkorte in Dresden“ in Form von drei gläsernen Bänken im Großen Garten, zwischen Blüherpark und Bürgerwiese sowie auf der Brühlschen Terrasse, die an die schrittweise Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Leben erinnern (ausführlichere Informationen). Außerdem gibt es Arbeiten von ihr in Herzliya (Israel) und Stockholm (Schweden).

Marion Kahnemann, Drei Denkorte (Brühlsche Terrasse) 2007-09, Foto: Günther Starke

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Die Idee ist erst mal vom Prinzip her gut. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es darum gehen sollte EIN „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten oder ob man das Thema nicht vielmehr auf verschiedenen Ebenen und mit mehr inhaltlichem Fokus angehen sollte. Dabei wäre es im ersten Schritt gar nicht so wichtig, wie digital oder dezentral das Thema gedacht wird. Ich gehe davon aus, dass moderne Museen heute sowieso verschiedene Zugänge suchen und ihre Inhalte hybrid abhandeln. Am wichtigsten ist das inhaltliche Konzept!

Als erstes wäre es wichtig, dass Jüdinnen und Juden, die doch schließlich seit Jahrhunderten hier wohn(t)en, wenn auch mit einigen unfreiwilligen Unterbrechungen, endlich Teil der jeweiligen Stadtgeschichten werden! Alle Museen in Sachsen sollten sich ihre Sammlungen vornehmen und nach integrierenden oder interdisziplinären Ansätzen zum Thema suchen. Vorbildlich in dieser Hinsicht sind das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz und die Kunstsammlungen Chemnitz, als sie noch von Ingrid Mössinger geleitet wurden, in denen das bereits geschieht bzw. geschah, und sei es nur, indem man sich die Geschichte der entsprechenden Häuser, deren Sammlungen selbst oder/und die internationale Szene einmal genauer angesehen hat. Als ein kleiner Anfang kann auch die Intervention „Rethinking Stadtgeschichte“ im Stadtmuseum Dresden gesehen werden.

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Einen wesentlichen Punkt habe ich bereits in der Antwort auf die vorangegangene Frage angerissen.

Um erst mal bei der Stadtgeschichte zu bleiben: Ich würde mir wünschen, dass beide Lokalgeschichten, dass heißt die Geschichte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft und die der am Ort ansässigen jüdischen Bevölkerung, zusammengeführt werden. Dazu gehören Brüche genauso wie Höhepunkte oder eben einfach nur das normale Leben als Teil oder erklärter Nicht-Teil der Stadtgesellschaft.

Mehrere eindrückliche Beispiele, die u. a. unbedingt thematisiert werden sollten, weil sie so oder ähnlich an einigen Orten vorkommen und die damit verbundenen Vorurteile meist nicht bearbeitet wurden, finden sich in Meißen: Im alten Stadtwappen ist ein Jude mit dem Judenhut integriert – warum ist das so? Grabsteine des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs sind in die Häuser eingebaut – welche Fragen zum Umgang mit Geschichte oder dem Heiligen Ort Anderer ergeben sich daraus? Im Meißner Dom sind hinter dem Altar Ecclesia und Synagoge dargestellt, letztere natürlich mit der Augenbinde, dem Symbol der Blindheit des Judentums gegenüber der christlichen Heilslehre. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Oder schauen wir auf Dresden: Da gab es zur Zeit Augusts des Starken im Wallpavillon im Zwinger ein sogenanntes „Juden-Cabinet“ mit einer Darstellung einer Synagoge nebst ausgestopftem Rabbi – es gab zu der Zeit aber fast keine Jüdinnen und Juden in Sachsen, weil ihre Niederlassung extrem erschwert war. Wie ist dieses Interesse am Jüdischen ohne die kaum präsenten Jüdinnen und Juden zu erklären? Ist das wie beim Antisemitismus, zu dem man auch keine realen Jüdinnen und Juden braucht? Wenn ja – was können wir daraus lernen? Schon alleine aus diesen wenigen Beispielen ergeben sich viele Fragen, die unbedingt irgendwo gestellt werden sollten und ein Podium brauchen – unabhängig von der Form.

Zu solchen und ähnlichen Fragen haben mehrere dezentrale lokale Initiativen geforscht, die auf jeden Fall in ein zukünftiges Konzept einbezogen werden sollten. Ob man diese Initiativen digital oder anderweitig verknüpfen und damit sichtbarer machen sollte, kann ich nicht entscheiden, da ich zu diesem Punkt zu wenig Expertise habe. Auch die bereits vorhandenen oder noch zu schaffenden Gedenkorte sollten mit dem zu schaffenden Konzept verknüpft werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt wäre, Kenntnisse und damit ein Verständnis von jüdischer Lebenswirklichkeit und der Vielfalt jüdischen Lebens zu vermitteln. Jüdische Kultur ist nicht nur Religion, aber auch nicht nur Klezmer! Meines Erachtens müsste überhaupt erst mal die Frage gestellt werden, was Judentum, was jüdische Kultur und Kunst, was Vielfalt der Haltungen im Judentum überhaupt sind – unabhängig von Dresden oder Sachsen. Eigentlich sind diese Fragen eine Grundvoraussetzung, um die Diskussion um ein jüdisches Museum auch qualitativ voran zu treiben!

Jüdische Kultur spielt sich zum größten Teil im Austausch mit den jeweiligen Ländern ab, in denen Juden und Jüdinnen leb(t)en. Dieses sichtbar zu machen, könnte für beide Seiten anregend sein, aber nur dann, wenn es auf Augenhöhe und mit Wissen erfolgt. Dazu wäre es nötig, sich Expertisen von außen zu holen, die einen Überblick über die kulturellen und religiösen Ausprägungen haben, die die Vielfalt auch einordnen und diese wiederum geschichtlich und lokal andocken können.

Marion Kahnemann, Ein endloses Lied (zu Yehuda Amichai) 2019, Acryl, Foto: Christine Starke

(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Das meiste habe ich bereits beantwortet. Ich möchte an dieser Stelle nur noch mal einige Punkte herausgreifen, verallgemeinern und vielleicht auch verstärken.

Meines Erachtens sollten vor allem, wie oben bereits angedeutet, Fragestellungen präsentiert werden, die allgemein relevante heutige Probleme einschließen. Es sollte ein Podium dafür geschaffen werden, sich im Anderen und dessen Besonderheiten ein Stück weit selbst besser verstehen zu können – auch die eigene Geschichte! Dafür wäre eine Grundvoraussetzung, dass man lernt, Fragen überhaupt zu haben und sie auch stellen zu können, um endlich bei diesem Thema weiter zu kommen.

Es sollte Hintergrundwissen zu verschiedenen Schwerpunkten gegeben werden, um eine gemeinsame Gesprächsbasis herstellen zu können. Das könnte in Form von Sonderausstellungen, verbunden mit digitalen Angeboten, geschehen.

Und mein letzter Punkt: Es sollten Möglichkeiten geschaffen werden, jüdische Kunst und Kultur in ihrer ganzen Bandbreite kennenzulernen. Das würde voraussetzen, dass Orte für Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen und anderes mehr gefunden werden – für Modernes, Historisches, Lokales, Internationales etc. Wichtig wäre es dabei aber, immer wieder die Anknüpfungen, an die anderen noch zu schaffenden oder bereits vorhandenen thematischen Auseinandersetzungen und an den jeweiligen Ort zu suchen.

(4) Wer soll erreicht werden?

Diese Frage überfordert mich. Ich denke es sollte ein Zugang für diverse Bevölkerungsschichten und Altersgruppen gesucht werden. Auch denke ich, dass ein modernes Museum heute nach diesen Zugangsmöglichkeiten sowieso sucht. Die Möglichkeiten dazu sind nahezu unbegrenzt, wenn es denn ein inhaltliches Konzept gibt und für eine Verstetigung gesorgt wird!

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Ich möchte hier zwei Objekte nennen, die eine gewisse Parallelität aufweisen: Das eine ist der gerettete Davidstern der zerstörten Sempersynagoge und das andere ist eine Thorarolle, die sich als Dauerleihgabe im Stadtmuseum Dresden befindet oder zumindest befand.

Einer der zwei Davidsterne, die bis zu ihrem Abbruch 1938 die Sempersynagoge zierten, wurde von dem Dresdner Feuerwehrmann Alfred Neugebauer versteckt und so gerettet. Nach dem Krieg wurde dieser Stern an die Dresdner Jüdische Gemeinde zurückgegeben!

Die Thorarolle, die ich als Parallelobjekt sehe, war Teil einer Ausstellung im Japanischen Palais in Dresden vor etwa 20 Jahren. Die Herkunftsaufschrift war: Privatbesitz, aus Sachsen. Bei einer Führung zum Thema „Verwaiste Objekte“ durch die damalige Museumsdirektorin fragte ich sie, wieso der Besitzer nicht genannt sei. Die Antwort war, er wolle nicht genannt werden und das wäre sein gutes Recht. Warum wollte er denn nicht genannt werden?! Daraufhin entspann sich ein sehr unschönes Gespräch über Recht und Unrecht des privaten Besitzes einer Thorarolle, die für den Gebrauch in einer Synagoge bestimmt war und sicher dafür auch genutzt wurde. In nichtjüdischem Privatbesitz über fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Shoah. Warum hat sich der „Besitzer“ nicht an eine Jüdische Gemeinde gewandt, um sie dieser zurückzugeben, auch wenn sie vielleicht aus einer anderen jüdischen Gemeinde stammte? Noch mal, warum wollte er nicht, dass sein Name genannt wird? Warum sah die Museumsleiterin das als sein gutes Recht an? Später konnte ich erfahren, dass diese Rolle im Archiv vom Rat des Bezirks Dresden aufbewahrt, später aussortiert wurde, und wem die Thorarolle dann später „gehörte“. Auf einigen Druck hin hat dieser „Besitzer“, bei dem es sich um eine Person des öffentlichen Lebens der Stadt Dresden handelt, sie dann an das Stadtmuseum gegeben.[1] Wenigstens das! Die Rolle einer jüdischen Gemeinde zu übergeben, ist aber meines Wissens gar nicht in Betracht gezogen worden. Das wäre vielleicht sogar auf das gleiche Ergebnis hinausgelaufen. Aber es ist eben nicht das Gleiche! In einer Ausstellung des Stadtmuseums habe ich die Thorarolle seitdem noch nicht gesehen.[2]

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Es sollte meiner Ansicht nach eine Fachkraft von außen gesucht werden, die sich mit der jüdischen Lebenswirklichkeit (kulturell, religiös, geschichtlich etc. hinsichtlich der Vielfalt), besonders auch in Deutschland, auskennt und die Erfahrungen im Aufbau moderner Museen mit allen Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, hat. Wünschenswert wäre auch, wenn sie die verschiedensten Ansätze jüdischer Museen heute genau kennen und verfolgen würde. Sie sollte spartenübergreifend arbeiten und bereits Vorhandenes miteinander vernetzen können. Sie sollte ein inhaltliches Konzept für die geplante/n Einrichtung/en erstellen, das heutigen Standards entspricht.

Ihr sollten die baulichen und finanziellen Möglichkeiten, auch die perspektivischen, der Kommune/n zugearbeitet werden. Auch sollte sie zur Aufgabe bekommen, die Debatte zum Thema in ihre Überlegungen mit einzubeziehen und die Möglichkeit zu prüfen, wie lokale und dezentrale Initiativen und Gedenkorte gestärkt und in das Konzept integriert werden können. Neben den genannten Aufgaben sollten Kunst und Kultur als Transportmittel relevanter Fragen und Debatten in ihrem Fokus sein.

Sie sollte die Kapazität haben, lebendiges heutiges Judentum und die damit verbundenen Fragestellungen für verschiedene Schichten und Altersgruppen in der Konzeption wirksam zu verankern!

Erst wenn diese Vorarbeit geleistet ist, nämlich für die Inhalte zu sorgen, kann man meiner Ansicht nach beginnen, gezielt über Orte, digitale Plattformen und andere Möglichkeiten nachzudenken.


[1] Aus datenschutzrechtlichen Gründen bittet das Stadtmuseum Dresden um Verständnis, dass eine Veröffentlichung des Namens vom Schenker an dieser Stelle nicht gestattet werden kann, auch wenn Frau Kahnemann dessen Identität bekannt ist.

[2] Das Stadtmuseum Dresden hat die Thorarolle nochmals in seiner Jubiläumsausstellung „Wir erinnern uns. 125 Jahre Stadtmuseum Dresden“ (04.06.–03.10.2016) präsentiert.