Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Agnes Scharnetzky Foto: ©Juliane Mostertz von FOTOGRAFISCH

Zur Person:

Agnes Scharnetzky, geb. 1987, ist seit 2019 Stadträtin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in Dresden und seit 2020 Fraktionsvorsitzende. Hauptamtlich ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie an der TU Dresden. Seit 2007 arbeitet sie als freie Referentin der historisch-politischen Bildung, u. a. in Gedenkstätten zu Themen wie NS-„Euthanasie“, Zeitzeuginnenschaft, kollektives Gedenken, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und extreme Rechte, zuletzt für die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa, das Landesamt für Schule und Bildung Sachsen und in der bayerischen Jugendarbeit.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

In meiner Wahrnehmung sind zeitgenössische Museen, besonders wenn sie sich der Aufgabe annehmen, gesellschaftspolitische Themen aufzuarbeiten und zugänglich zu machen, wichtige Orte der gesamtgesellschaftlichen Aushandlung. Das Museum zeichnet sich meines Erachtens dabei dadurch aus, dass es unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Zugänge bietet und auch die Postulierung der eigenen Position, des eigenen Standpunktes erleichtern kann. Es gibt eine Reihe von Ausstellungen der jüngeren Zeit, wo am Beginn, am Ende oder mitten drin Besucher*innen, angeregt durch die Ausstellung und spezifische Impulse, die Möglichkeit haben, sich selbst im Bezug auf den Gegenstand oder aufgeworfene Fragen in Beziehung zu setzen, dies für andere Besucher*innen sichtbar zu machen und ggf. auch im Raum zu hinterlassen. So setzen sie sich nicht nur mit den kuratierten Inhalten, sondern auch mit der Wahrnehmung anderer Besucher*innen auseinander. Das Museumsquartier Wien ist hier als Gesamtkonzept sicher ein herausragendes Beispiel.

So verstanden sehe ich viel Potenzial in der Einrichtung eines Museums, wo jüdische Kultur- und Ideengeschichte präsentiert und verhandelt wird. In meiner Vorstellung ist es ein Ort, der einlädt über die Geschichte und Gegenwart jüdischer Menschen und des Judentums in Sachsen zu reflektieren und zu sprechen, auch aus Begegnungen heraus. Es kann darüber hinaus ein Ort sein, wo zumindest punktuell auch abgeleitete Fragen verhandelt werden: Welche Rolle spielt Religion in Geschichte und Gegenwart im Hinblick auf Krieg und Frieden? Welchen Anteil haben Herkunft und Religion an der Identität von Menschen? Wie sind sächsische Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart mit Minderheiten und jüdischen Menschen im Speziellen umgegangen? Welche Motive lagen dem jeweiligen Ansatz zu Grunde? Ein Jüdisches Museum sollte den Blick aber auch in die Zukunft lenken: Welchen Herausforderungen sehen sich junge jüdische Menschen heute gegenüber? Wie begegnen sie diesen Herausforderungen und welche Verantwortung übernimmt dabei die Gesellschaft beziehungsweise sollte sie übernehmen?

Haltungsübungen im Hof des Museumsquartiers Wien Foto: ©Agnes Scharnetzky

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Das Wo ist mit Blick auf ein Jüdisches Museum in Sachsen gerade sehr offen. Es spricht aus meiner Sicht einiges dafür, einen Standdort in Dresden zu suchen und damit auch deutlich zu machen, dass Mitglieder jüdischer Gemeinden auch Dresden und Sachsen wie wir es heute kennen im Laufe der Geschichte nachhaltig geprägt haben. Ich finde den Gedanken, ein dezentrales Jüdisches Museum in Sachsen zu haben, das auch in Dresden repräsentiert ist, ebenso spannend. Diese Überlegung hat sich aus den bisherigen Debatten ergeben. Tatsächlich kann es ja nicht um eine Konkurrenz möglicher Orte gehen, sondern es ist die Frage, welches Konzept umgesetzt werden soll und wo und wie sich das besonders anbietet. Gleichzeitig ist zu klären, welche Geschichte erzählt werden soll. Aus meiner Sicht ist es wesentlich, auch die Geschichte Schlesiens und Böhmens einzubeziehen, besonders dort, wo es enge Verbindungen zur sächsisch-jüdischen Landesgeschichte gibt.

Ungeachtet des Standortes eines Jüdischen Museums ist es mir als Stadträtin in Dresden ein Anliegen, dass die jüdische Geschichte Dresdens mehr ins öffentliche Bewusstsein rückt und sowohl in der Erzählung der Stadtgeschichte als auch in Vermittlungsprozessen mehr Raum erhält. Ich bin der Überzeugung, die bewusste und offene Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte, Religion und Kultur kann dem grassierenden Antisemitismus etwas entgegensetzen. In Dresden nehme ich hier bereits wertvolle Impulse im Stadtmuseum und seitens der Zivilgesellschaft wahr. Gleichzeitig ist es bedauerlich, dass das jüdische Café in der Synagoge so nicht mehr besteht. Vor diesem Hintergrund wäre ein Begegnungszentrum, wo auch im Alltag Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur beispielsweise über Essen stattfinden kann, wünschenswert.

Auch vor diesem Hintergrund habe ich den Alten Leipziger Bahnhof im Blick, der jetzt entwickelt wird und der eng mit jüdischer Geschichte als Geschichte von Industrialisierung, Fortschritt und Prosperität, aber auch der Geschichte der Deportationen von Dresdner Jüd*innen im Nationalsozialismus verknüpft ist.

 (3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Ich wünsche mir eine Erzählung jüdischer Geschichte und Kultur, die die Komplexität widerspiegelt. Sie sollte meines Erachtens nach nicht erst im 19. Jahrhundert beginnen und gleichwohl einen Schwerpunkt in dieses Jahrhundert legen. Ich wünsche mir aber auch eine Geschichtserzählung, die über 1945 hinausblickt und unbedingt auch die zeitgenössischen Geschichten sächsischer jüdischer Gemeinden nach 1990 mit ihren spezifischen Herausforderungen erzählt.

Ich persönlich kann mir thematische Zugänge (Erfolge, Besonderheiten, Ausgrenzung, Fortschritt, Ermöglichung etc.) ebenso vorstellen, wie biografische Erzählungen oder die Narration von Geschichten sächsischer Familien jüdischen Glaubens. Ich würde mir wünschen, dass ein Museum den Menschen auch nachspürt und somit abbildet, wie global eine regionale jüdische Geschichte besonders aufgrund des Holocaust ist.

Präsentiert werden sollten Exponate, die die Erzählung stützen, aber auch solche, die die Veränderungen und Lücken deutlich machen, die sich aus der geplanten Vernichtung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus bis in die Gegenwart ergeben. Zentral scheint mir, dass nicht alles, was jüdische Menschen geleistet haben einzig und allein mit ihrer jüdischen Herkunft verknüpft wird, sondern dass es vielmehr darum geht zu zeigen, dass die jüdische Identität ein Aspekt unter verschiedenen einer jeden Person ist.

(4) Wer soll erreicht werden?

Es soll ein Angebot an alle Menschen sein.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Anlässlich des 100. Geburtstages von Henry H. Arnhold hat die Stadt Dresden am 25. September 2021 unter dem Titel Building Bridges eine Festveranstaltung ausgerichtet. Die Historikerin Simone Lässig, Direktorin des German Historical Institute Washington, D. C., hat dabei einen Vortrag zum Wirken der Familie Arnhold und ihrem Ideal der Bürgerlichkeit gehalten. In einem Jüdischen Museum wären gerade auch aus Perspektive jüdischer Familien im langen 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Fragen von Bürgerlichkeit und Bürgertum zu verhandeln. Was zeichnet Bürgerinnschaft aus? Was sind bürgerliche Ideale, Werte und Tugenden? Wo und durch wen werden die vermittelt und welche Zwecke erfüllen sie – individuell wie gesellschaftlich? Aber auch – und hier komme ich zum Exponat – welche Rolle spielen Räume, Häuser und Wohnungen dabei? Simone Lässig zeigte zum Abschluss ihres hervorragenden Vortrages das Foto eines Schlüssels. Es war der Schlüssel zu Arnholds Dresdner Haus, den er in New York immer noch in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Ein Schlüssel symbolisiert Verfügungsgewalt, Schutz und Rückzug. Er ermöglicht exklusive Zugänge. Und er war im Fall Henry H. Arnholds auch ein Symbol für das, was unrechtmäßig entrissen wurde.

Darstellung des Schlüssels von Henry H. Arnhold im Rahmen der Festveranstaltung Building Bridges im Kulturpalast der Landeshauptstadt Dresden 2021 Foto: ©Agnes Scharnetzky

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Sie sollte lebendig geführt werden. Ich danke dem Stadtmuseum Dresden und dem Geschäftsbereich für Kultur an dieser Stelle herzlich für die umfangreichen Bemühungen.