Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

©Nora Goldenbogen

Zur Person:

Dr. Nora Goldenbogen wurde in Dresden geboren. Seit 2017 ist sie Vorsitzendes des Landesverbandes Sachsen der jüdischen Gemeinden. Von 2003 bis 2020 war sie Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Die diplomierte Lehrerin für Deutsch und Geschichte ist Gründungsmitglied des Dresdner Vereins HATiKVA e. V. – Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen e. V. und hat zahlreiche Abhandlungen zur Geschichte der Juden in Sachsen verfasst.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Ich habe das im Prinzip schon immer für eine gute Idee gehalten und mich deshalb auch bei früheren Versuchen hier in Dresden engagiert. Was ich heute anders sehe, ist die Frage, wie man ein solches Projekt angehen sollte. Ich bin deshalb froh, dass aktuell so viele Menschen darüber reden und sich Gedanken machen. Schließlich haben wir es nicht mit einem Projekt zu tun, dass nur wenige Monate Zeit braucht, sondern – sollte es denn umgesetzt werden, was ich mir wünsche – aufgrund der notwendigen sorgfältigen inhaltlichen wie organisatorischen Planung Jahre benötigen wird. So sollte es nicht nur um Dresden, sondern um Sachsen insgesamt und auch die Nachbarregionen, also Böhmen und Schlesien gehen, deren jüdische Geschichte eng mit der hiesigen verknüpft ist.


(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Natürlich hat ein fester Ort, an dem man ‚geballt‘ Informationen zu Geschichte und Gegenwart von Jüdinnen und Juden erhalten kann, seine Vorteile. Trotzdem sehe ich inzwischen auch die Vorteile eines dezentralen Museums. Schließlich gibt es in Sachsen viele große und kleine Orte mit jüdischer Geschichte. Die Frage dabei ist, inwiefern ein potenzieller Museumsbesucher auch bereit wäre, sich auf diese Form einzulassen und verschiedene Orte aufzusuchen. Aber das werden zukünftige Ausstellungsmacher*innen sicherlich in ihre Überlegungen einbeziehen. Für die Orte wäre eine dezentrale Umsetzung gut, für Besucher*innen sollte der logistische Aufwand aber nicht zu groß sein, um an die Inhalte zu gelangen. Auch darüber wird also in der Diskussion zum Thema zu sprechen sein.

Grabsteine von Annaberger Jüdinnen und Juden im Ehrenhain auf dem Annaberger Friedhof – auch in der Bergstadt gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde (Foto: Daniel Ristau, 2019)


(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Ein jüdisches Museum sollte einen Querschnitt durch jüdische Geschichte über die Jahrhunderte bieten. Für Juden und Jüdinnen in Sachsen blicken wir da auf fast 1.000 Jahre. Manches wird auch erst durch die Sichtbarkeit der Gesamtentwicklung deutlich. Dabei wird man schauen müssen, welche Objekte, Geschichten und Präsentationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, einige Dinge sind da ja über die letzten Jahrzehnte bekannt. Bei einem dezentralen Museum könnten die Objekte auch in der jeweiligen Stadt bleiben.


(4) Wer soll erreicht werden?

So viele wie möglich. Es wäre auch zu überlegen – das hat mir im Jüdischen Museum in Berlin immer ganz gut gefallen –, wie man für die verschiedenen Altersgruppen vom Schulkind an museale Zugänge eröffnet. Um ganz unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, braucht es unterschiedliche Herangehensweisen. Viele Museen haben da in den letzten Jahren innovative Konzepte entwickelt, von denen auch ein jüdisches Museum in Sachsen profitieren kann. Auch Leute im fortgeschrittenen Alter, die sich vorher nicht wirklich für das Thema interessiert haben oder ihm sogar distanziert gegenüberstanden, könnten so angesprochen werden. Sie hätten so die Chance, sich jüdischer Geschichte und Kultur überhaupt erst einmal zu nähern.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Ich könnte kein einzelnes Objekt benennen. Vielmehr sind mit vielen Dingen die Geschichten von Personen verbunden. Ich habe beispielsweise einen Leuchter geschenkt bekommen, der gehörte einmal Helmut Aris, der nach 1945 über lange Jahre Gemeindevorsitzender in Dresden und Präsident des Verbandes der jüdischen Gemeinde in der DDR war. Wenn ich diesen Leuchter sehe, erinnere ich mich an ihn. Solche Gegenstände, die an Menschen – und zwar nicht nur an Personen jüdischen Glaubens – erinnern, gibt es viele. Es ist wichtig, die Geschichten und Selbstverständnisse jüdischer Menschen sichtbar zu machen – und zwar jenseits pauschaler Zuordnungen und Klischees aus ihren individuellen Lebenskontexten heraus. Oft sind Menschen mit Gegenständen zu uns in die Jüdische Gemeinde gekommen, die aus ganz verschiedenen Gründen in ihren Besitz gelangt sind und von denen sie irgendwann dachten: Eigentlich gehört das nicht hierher und zu mir, sondern in eine jüdische Gemeinde, dort, wo es wahrscheinlich herkommt. Das waren Bücher mit Stempel der Gemeindebibliothek vor 1938, Fotos, Ritualobjekte und sogar eine Thorarolle.


(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Es sollte endlich mal wieder eine öffentliche Diskussion geben – das war in der letzten Zeit auch aufgrund von Corona nicht möglich –, da es ja auch von verschiedenen Seiten ganz verschiedene Vorstellungen gibt, wie man mit dem Thema Jüdisches Museum in Sachsen umgehen sollte. Oft ist damit auch eine gewisse Aufgeregtheit verbunden. Es wäre deshalb gut, wenn man über die öffentliche Diskussion miteinander ins Gespräch kommt – und dann idealerweise feststellt, dass man gar nicht so weit voneinander entfernt ist.