Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Mirjam Wenzel ©Jüdisches Museum Frankfurt am Main

Zur Person:

Mirjam Wenzel ist Direktorin des ältesten Jüdischen Museums in Deutschland in kommunaler Trägerschaft, das Jüdische Museum in Frankfurt am Main. Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Politikwissenschaft in Berlin und Tel Aviv. Von 2007 bis 2015 leitete sie die Medienabteilung am Jüdischen Museum Berlin und gilt seither international als Expertin für die digitale Transformation von Museen. Seit 2019 lehrt sie als Honorarprofessorin am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2020/21 war sie Bauhaus-Gastprofessorin an der Bauhaus-Universität in Weimar.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „Jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Zunächst möchte ich diese Idee gerne kontextualisieren: In den letzten Jahrzehnten sind europaweit immer mehr Jüdische Museen entstanden – bezeichnender Weise vor allem in Osteuropa, wo während des nationalsozialistischen Eroberungskriegs Jüdinnen und Juden aus ganz Europa zusammengetrieben, in Vernichtungslagern systematisch ermordet und ihre Kultur zerstört wurden. Die Museen, die hier nun gegründet wurden und weiterhin werden, befinden sich zumeist an Orten wie etwa Vilnius, in denen einst bedeutende jüdische Gemeinden existierten, es aber keine annähernd vergleichbar vitale jüdische Gegenwart mehr gibt. Sehr häufig haben diese Museen zugleich auch die Funktion, etwa eine ehemalige Synagoge, eine Mikwe oder eine andere ehemalige jüdische Gemeindeeinrichtung zu bewahren, zu restaurieren und für ein vornehmlich nichtjüdisches Publikum zugänglich zu machen. Das, also der konkrete Wunsch, ein Gebäude zu erhalten, ist die eine Entwicklung. Die andere ist eher symbolischer Art: Sie besteht darin, dem vergangenen jüdischen Leben ein Denkmal setzen zu wollen. Dies geschieht etwa mit dem Lost Shtetl Museum, das 2023 im litauischen Šeduva eröffnet werden soll. Dort gibt es einen bedeutenden Friedhof der ehemaligen jüdischen Gemeinde. Emigrant*innen haben dieses große Museum begründet, das letztlich vor allem eine Medienlandschaft sein wird, weil es außer dem Friedhof im Grunde kaum materielle Zeugnisse vom einstigen jüdischen Leben vor Ort gibt.

Diese beiden Tendenzen zeichnen sich seit den 1990er Jahren ab und führen dazu, dass europaweit heute sehr viel mehr Jüdische Museen existieren, als das vor 1989 der Fall war. Meiner Ansicht nach ist das eine zwiespältige Entwicklung: Auf der einen Seite bin ich der Überzeugung, dass Jüdische Museen heute relevanter sind, als sie es noch vor zehn Jahren waren, weil wir in Zeiten massiver politischer Veränderungen leben. Diese bestehen in einer Zunahme autoritärer Herrschaftsformen, einem ansteigenden Antisemitismus, einem Erstarken von Flucht und Migration sowie in der Frage, welche Antworten zunehmend diverse Gesellschaften auf diese Veränderungen finden. Es handelt sich um Kernthemen von Jüdischen Museen, die nun also eine andere gesellschaftspolitische Relevanz haben.  Auf der anderen Seite ist die Neugründung eines Jüdischen Museums nicht unbedingt ein sinnvoller Schritt in der politisch notwendigen Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Denn hier sind neben Wissensvermittlung und Aufklärung auch und vor allem gesellschaftliche Bildungsmaßnahmen, juristische Schritte und zivilgesellschaftliches Engagement gefragt.

Bezogen auf die spezifische Situation in Sachsen würde ich sagen, dass der nun öffentlich artikulierte Wunsch nach einem Jüdischen Museum in Dresden und einem digitalen Jüdischen Museum in Leipzig sicherlich aus hehren politischen Motiven geschieht, aber möglicherweise zu kurz greift. Mit dem Staatlichen Museum für Archäologie in Chemnitz (smac) existiert meiner Ansicht nach in dem Bundesland bereits ein Ort – nämlich das ehemalige Kaufhaus Schocken –, der durchaus auch den Charakter eines Jüdischen Museums hat. Ein solches Museum muss immer eine lokalgeschichtliche Bedeutung haben – mit Schocken ist diese in Chemnitz auf jeden Fall gegeben. Die Fragen, die sich nun entsprechend in Dresden und Leipzig stellen, sind also: Was ist der historische Ort? Was ist das „Gewicht“ der Geschichte, die erzählt werden soll, im Verhältnis zu anderen Geschichten? Was sind die Objekte, die man zeigen, die Geschichten, die man erzählen kann, und an wen wendet man sich? Und welche, auch finanziellen, Voraussetzungen bestehen oder können geschaffen werden, um nicht nur die Funktionalität, sondern auch die Zukunftsfähigkeit und damit die Nachhaltigkeit eines neuen Museums sicherzustellen? Erst, wenn diese entscheidenden Fragen beantwortet sind, kann man eine Entscheidung für oder eben auch gegen die Schaffung eines eigenständigen neuen Jüdischen Museums treffen.


(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Ein Jüdisches Museum ist nicht immer die beste und bestimmt nicht die einzige Form, in der jüdische Geschichte und Kultur dargestellt und für eine breite Öffentlichkeit erfahrbar gemacht werden kann. Oft ist eine Präsentation jüdischer Geschichte vor Ort, sei es in stadtgeschichtlichen Museen, im Stadtraum oder an spezifischen Orten jüdischer Geschichte wie etwa dem bereits erwähnten Kaufhaus Schocken oder in ehemaligen oder auch aktuell genutzten Einrichtungen von jüdischen Gemeinden sehr viel effizienter. Der Wunsch nach Symbolisierung in einem eigenen Haus hat enorme Folgen: Er bedeutet nicht nur, dass man ein Gebäude finden oder bauen, sondern dieses auch unterhalten muss. Ein neues Museum sollte mit seiner Gründung langfristig finanziert sein, einen Mitarbeiter*innenstab und eine Sammlung aufbauen können, also einer gesicherten Zukunft entgegensehen. Bevor eine Stadt diesen Schritt geht, sollte sie sich fragen, ob die jüdische Geschichte und Kultur, die in einem Jüdischen Museum getrennt von der allgemeinen Geschichte des Ortes erzählt wird, überhaupt diese überregionale Relevanz besitzt. Und diese Frage gilt es in einem vergleichenden Kontext zu beantworten.

Das Reizvolle an der Idee eines Jüdischen Museums in Dresden besteht meiner Ansicht nach in den regionalen Bezügen, in denen ein solches Museum die jüdische Geschichte verorten müsste. Wir haben es mit einer liminalen Region, einer Grenz- oder Kontaktzone, zu tun, in der etwa Migration eine große Rolle spielte. Die Perspektive, hier etwa die Geschichte der schlesischen und böhmischen Juden mit einzubeziehen, finde ich interessant. Oder auch die temporäre Geschichte der überlebenden Jüdinnen und Juden, die unmittelbar nach Kriegsende in Oberschlesien siedelten und dort weitgehend autonom ihre Weiterreise nach Erez Israel vorbereiteten. Zugleich gilt es zu bedenken, dass mit dem Upper Silesian Jews House of Remembrance in Gliwice (Gleiwitz) 2019 schon ein Jüdisches Museum eröffnet worden ist, das die jüdische Geschichte der Region erzählt. Es existiert auf polnischer Seite also bereits ein Jüdisches Museum, das sich der jüdischen Geschichte der Region widmet. Die Frage ist daher: Ist es wirklich sinnvoll, in Dresden ein neues Jüdisches Museum zu gründen, um dem unzweifelhaft sinnvollen Wunsch nachzukommen, das öffentliche Bewusstsein von der jüdischen Geschichte der Region zu stärken und den Antisemitismus in der Region zu bekämpfen?


(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Diese Frage muss von Kurator*innen entschieden werden, die die materiellen Zeugnisse der jüdischen Kultur in der Region kennen. In Dresden selbst lebten mehrere bedeutende Persönlichkeiten, auf die eine Präsentation eingehen müsste, etwa auf Rabbiner Zacharias Frankel, die Malerin Lea Grundig, die Bankiersfamilien Arnhold und Oppenheim, den Romanisten und Publizisten Victor Klemperer, aber auch auf den Hoffaktor Berend Lehman, dem bereits ein eigenes Museum in Halberstadt gewidmet ist. 

In Frankfurt am Main haben wir uns entschieden, in unseren beiden Museen eine zweiteilige Dauerausstellung zu zeigen, die jeweils von der Geschichte der Orte selbst ausgeht. In einem Fall ist dies das erste jüdische Ghetto Europas, in dessen Fundamenten sich unser Museum Judengasse befindet, im anderen Fall das Rothschild-Palais, welches das größte Exponat unserer Ausstellung „Wir sind jetzt“ darstellt, die von der Zeit der Aufklärung bis in die Gegenwart reicht. Wir haben dabei die Perspektive einer Pluralität von Geschichten eingenommen, also ganz bewusst „story telling“ betrieben. Medien sind dabei genauso eingebaut wie originale Objekte. Wir verstehen uns also als eine Art Plattform einer Vielfalt von jüdischen Stimmen.

Blick in die Dauerausstellung des Museums Judengasse in Frankfurt am Main ©Jüdisches Museum Frankfurt am Main

In beiden Museen erzählen wir die 850-jährige jüdische Geschichte Frankfurts als eine europäische Geschichte, weil die Stadt insbesondere in der Frühen Neuzeit und in der Moderne ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in Europa war. Dabei spielt an beiden Orten das Leben von Jüdinnen und Juden in Frankfurt eine zentrale Rolle für unsere Ausstellungserzählung. In unserem neuen Museumskomplex am Bertha-Pappenheim-Platz 1 präsentieren wir auch Wechselausstellungen, die nicht unbedingt einen lokalen Bezug haben. Hier spielen für uns aktuelle Fragestellungen und Perspektiven eine große Rolle.

Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass es ein zentraler Bestandteil von Museumsarbeit ist, ein für das eigene Haus sinnvolles Konzept zu entwickeln und eine sprechende Auswahl von Objekten und Geschichten vorzunehmen. Diese konzeptionelle Arbeit hängt übrigens nicht nur vom Ort, sondern auch von der Trägerschaft der jeweiligen Einrichtungen, ihren finanziellen Kapazitäten und der Frage ab, ob eine Sammlung existiert. In Südeuropa gibt es vor allem Jüdische Museen, die von den jüdischen Gemeinden unterhalten werden, als deren Gedächtnisorte fungieren und deren materielle Kultur bewahren. Hier dominieren häufig Gegenstände der jüdischen Zeremonialkultur. In Osteuropa gleichen Jüdische Museen hingegen eher Medienlandschaften, die mit großem technischen Aufwand Geschichten erzählen.

(4) Wer soll erreicht werden?

Was in meinen Augen alle Jüdischen Museen in Deutschland miteinander verbindet, ist, dass sie in besonderem Maße Bildungseinrichtungen sind – sehr viel mehr als andere Museen. Das hat mit der Schoa zu tun. Alle Jüdischen Museen im deutschsprachigen Raum sind nicht etwa aus prächtigen Sammlungen erwachsen, die bewahrt und gezeigt werden sollten, sondern aus dem politischen Willen heraus, eine vergangene Kultur zu vermitteln, die zerstört wurde. Jüdische Museen in Deutschland sind also in erster Linie Erinnerungsorte. Dementsprechend spielt Erinnerungsarbeit, also Bildung und Vermittlung, für sie eine zentrale Rolle. In unserem Fall heißt Bildungsarbeit neben der Wissensvermittlung auch Persönlichkeitsbildung, Antisemitismus- und Extremismusprävention bei Jugendlichen. In unseren Bildungsprogrammen halten wir Schüler*innen dazu an, über die eigene Familiengeschichte, die eigenen Ressentiments und stereotypen Wahrnehmungsmuster zu reflektieren. Solche edukativen Prozesse in Sachsen zu befördern, wäre sicherlich politisch sinnvoll und wichtig. Meiner Erfahrung nach braucht es dazu allerdings nicht unbedingt den Ort eines Museums. Auch unsere Extremismuspräventionsprogramme beginnen dort, wo sich die Jugendlichen in ihrem Alltag aufhalten: an ihren Schulen, in ihren Freizeiteinrichtungen und an ihren Lieblingsorten im Stadtraum.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Das kann man so allgemein gar nicht sagen. Im letzten Jahr hat das Leo Baeck Institute mit dem Shared History Projekt eine Auswahl an bedeutenden Objekten aus 1700 Jahren jüdischer Geschichte auf dem Territorium des heutigen Deutschlands vorgestellt, an der wir auch beteiligt waren. Und der Verein, der das Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ veranstaltet hat, initiierte im Herbst 2021 mit Sukkot XXL ein großes partizipatives Projekt, bei dem in zahlreichen deutschen Städten – etwa auch in Chemnitz – große Laubhütten errichtet worden sind. Ist das nun bezeichnend für jüdische Gegenwart in Deutschland – oder zumindest den Wunsch danach? Oder kennzeichnen die Gegenwart eher die antisemitischen Übergriffe, von denen man regelmäßig hört? Jüdinnen und Juden artikulieren sich heute in Deutschland selbstbewusster, lautstarker und sichtbarer als das noch in den 1990er Jahren und selbst noch vor zehn Jahren der Fall war. Gleichzeitig ist jüdisches Leben aber auch massiver bedroht.

Die beiden jüngsten Objekte, die wir in unseren Sammlungsbereich jüdischer Kultur der Gegenwart aufgenommen haben, geben diese Ambiguität wieder: Es handelt sich zum einen um den Film „Elegy“ von Talya Feldman, der sich auf die Nachwirkungen des Anschlags auf die Synagoge in Halle bezieht, und zum anderen auf den Spaten und den Helm, der beim Spatenstich für die Jüdische Akademie getragen wurden, die der Zentralrat der Juden in Deutschland in Frankfurt baut.


(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Als jemand, der zu jüdischen Museen arbeitet und forscht, muss ich zunächst erst einmal sagen, dass ich bislang lediglich ein paar Artikeln in lokalen Zeitungen wahrgenommen habe, in denen über den Wunsch berichtet wurde, in Dresden ein Jüdisches Museum zu bauen. Das ist noch keine Debatte. Ein werdendes Museum, das eine Relevanz haben soll, muss eine weitaus größere Resonanz und Sichtbarkeit haben, als das im Moment der Fall ist. Man muss also schon fragen, worüber wir sprechen: Über den Wunsch einer oder mehrerer Einzelpersonen? Über Stadtratsbeschlüsse, die von der Absicht getragen sind, ein Zeichen zu setzen? Anders gesagt: führen diese Wünsche und Absichten dazu, dass die Stadt Dresden in ihrem Haushalt der kommenden Jahrzehnte auf Dauer jährlich große Geldsummen für ein Jüdisches Museum einstellen wird? Und wenn das noch nicht klar sein sollte: Wäre es dann nicht vielleicht sinnvoller, die Sichtbarkeit jüdischer Geschichte etwa in einem Stadtmuseum oder in anderer Form im Stadtraum zu erhöhen und dafür sowie für die dazu passenden Bildungsformate Gelder zu investieren? Ließen sich nicht auch flexible Bildungsangebote wie etwa ein Bus oder eine mobile Ausstellung entwickeln, mit denen speziell ausgebildete Pädagog*innen Schüler*innen im gesamten Bundesland Sachsen direkt vor Ort aufsuchen und so gezielt gegen Antisemitismus unter Jugendlichen wirken könnten? Wäre das nicht vielleicht eine nachhaltigere Antwort – nicht nur auf die Zeit, in der wir leben, sondern auch mit Blick darauf, dass es in Dresden selbst gar keinen historischen Ort gibt, der zwingendermaßen ein Jüdisches Museum werden sollte? Meines Erachtens gilt es, zunächst über diese und weitere Optionen zu debattieren, bevor die Stadt Dresden den bereits eingeschlagenen Weg zur Gründung eines Jüdischen Museums weiter fortsetzt.

Blick in die Dauerausstellung im Palais Rothschild in Frankfurt am Main ©Jüdisches Museum Frankfurt am Main