Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

Dr. Jürgen Nitsche, Sommer 2020, Foto: Doris Werner

Jürgen Nitsche (Jg. 1958) ist freier Historiker, Autor und Kurator aus Mittweida (Sachsen) mit den Schwerpunkten Geschichte der Jüdinnen und Juden in Sachsen und Geschichte der jüdischen Warenhäuser TIETZ und SCHOCKEN sowie die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen und Zwangssterilisationen im Regierungsbezirk Chemnitz.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Angesichts der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Sachsen finde ich die Idee sehr gut. Ich sehe hier vor allem den Freistaat in der Pflicht. Ohne Unterstützung der sächsischen Staatsregierung wird es noch viele Jahre dauern, bis es ein Museum geben wird. Ich erinnere nur an die unschönen Diskussionen um die Errichtung einer KZ-Gedenkstätte in Sachsenburg, heute Ortsteil der Stadt Frankenberg.

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Das ist wohl die wichtigste Frage. Ich bin unbedingt für eine dezentrale Darstellung der jüdischen Geschichte. Ich favorisiere als Standort für die frühe Zeit die Stadt Meißen. Für die Zeit ab 1700 schlage ich vor, jüdische Geschichte entweder in eigenen Abteilungen der stadtgeschichtlichen Museen in Dresden und Leipzig darzustellen oder in Außenstellen des Museums in Meißen. Für die Zeit ab 1867 käme derselbe Ansatz in Frage, also die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Dauerausstellungen in den in Frage kommenden Museen in Chemnitz, Plauen, Zwickau, Annaberg, Bautzen und Zittau zu präsentieren. Die Städte Görlitz, Delitzsch und Eilenburg spielen hierbei aufgrund ihrer Geschichte eine gesonderte Rolle.

Man muss hierbei auch an die Akteurinnen und Akteure vor Ort denken und diese einbinden – und zwar auf keinen Fall nur als „Wasserträger“, die nur die Inhalte liefern dürfen.

Konkret zur Situation in Chemnitz kann ich sagen, dass das Schlossbergmuseum nicht genügend Raum für eine neue Dauerausstellung bietet. Hier sollte geprüft werden, ob es nicht eine neue Außenstelle in einem der leerstehenden Fabrikgebäude oder einer der Villen der Stadt geben könnte, die einst jüdische Eigentümer hatten. Das ehemalige Kontorhaus der früheren Aktienspinnerei, das heute zur neuen Universitätsbibliothek gehört, käme sicher auch in Frage. In dem Gebäude hatte die Jüdische Gemeinde zu Chemnitz ihren Sitz zwischen 1949 und 1953. Laut Auskunft des Universitätsarchivars gibt es jedoch bereits Nutzungspläne für das Gebäude.

Ehemaliges Kontorhaus der Aktienspinnerei Chemnitz (Sitz der Jüdischen Gemeinde Chemnitz von 1949 bis 1953), Foto: Reinhard Kühn

Ich kann mir gut vorstellen, dass ein „Jüdisches Museum“ ein Projekt wäre, mit dem sich die Stadt Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas nachhaltig in Szene setzen könnte. Ob das die Verantwortlichen auch so sehen, möchte ich aber stark bezweifeln.

(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Präsentiert werden sollten neben Ausgrabungsfunden und rituellen Gegenständen vor allem Exponate, die für die jeweiligen Kultusgemeinden und ihre Mitglieder typisch waren, also zum Beispiel Textilien wie Handschuhe, Strümpfe und Badeanzüge für Chemnitz, Posamenten für Annaberg und Spitze für Plauen. Darüber hinaus sollten Unternehmerfamilien vorgestellt werden, die von regionaler oder nationaler Bedeutung waren, so die Familie Schocken in Zwickau sowie die Familien Tietz/Gerst in Chemnitz und Plauen. Ferner sollten auch die Juden als Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg sowie die Rolle der sogenannten Ostjuden samt den Konflikten in den Gemeinden thematisiert werden. Die Zeit des Nationalsozialismus muss entsprechend der lokalen Besonderheiten aufbereitet werden. Dies trifft auch auf die Zeit des Neubeginns jüdischen Gemeindelebens nach 1945 zu.

All dies geht nur bei einer dezentralen Aufbereitung, die in die Fläche geht. Innerhalb eines Jüdischen Museums in einer Stadt – also etwa in Dresden oder Leipzig – würde man mit Sicherheit das jüdische Leben außerhalb nur als Anhängsel einbeziehen. Im Jüdischen Museum in Berlin gibt es zum Beispiel den Nachlass der jüdischen Unternehmerfamilie Becker aus Chemnitz. Aufgrund seiner Provenienz spielt dies kaum eine Rolle in der Berliner Dauerausstellung. So würde es sich auch in einem Museum in Dresden oder Leipzig verhalten.

Das Besondere einer musealen Repräsentation wären sicher biografische Spurensuchen, mit denen man die einzelnen Israelitischen Religionsgemeinden vorstellen kann. Was macht man mit den Jüdischen Friedhöfen, die an das frühere reichhaltige jüdische Leben in Sachsen erinnern? Allein diese sind es wert, in einem Museum präsentiert zu werden!

(4) Wer soll erreicht werden?

Hier denke ich, sollte es keine Unterschiede zwischen den Besuchern und Besucherinnen der Museen im Freistaat Sachsen insgesamt geben.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Die Mikwe, die neulich in Chemnitz bei Ausgrabungen entdeckt wurde, würde sich anbieten, die jahrhundertalte Geschichte der Juden in Sachsen in all ihrer Kompliziertheit, mit ihren „Austreibungen“ im späten Mittelalter (Rabbiner Dr. Hugo Fuchs) darzustellen. Leider wird die Mikwe wohl nur in einem Parkhaus eines privaten Investors zu betrachten sein, wodurch ihre Einmaligkeit in der Kulturgeschichte Sachsen, ihr besonderer Stellenwert, verloren geht.

Historische Mikwe in Chemnitz, Ausgrabungsstelle, Foto: Jürgen Nitsche

Auf alle Fälle sollte der Überseekoffer der Familie Sonder, der sich derzeit im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz befindet, gezeigt werden. Der Koffer steht sowohl für Ankommen und Sich-Einrichten als auch für Flucht und Auswanderung.

Überseekoffer der Eheleute Sonder (Sammlung Nitsche), Foto: Ausstellung „125 Jahre Jüdische Gemeinde in Chemnitz“, 2010

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Es sollten unbedingt Informationsveranstaltungen in Dresden, Leipzig und Chemnitz stattfinden.