Gastbeitrag von Daniel Ristau

Das Interview ist Teil der begleitenden Blog-Reihe zur Intervention Rethinking Stadtgeschichte: Perspektiven jüdischer Geschichten und Gegenwarten in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden 2021/2022. Angesichts der aktuellen Überlegungen zu einem Jüdischen Museum für Sachsen kommen an dieser Stelle Akteurinnen und Akteure, die sich mit dem Thema beschäftigen, Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden in Sachsen, von Politik und Gesellschaft sowie Expertinnen und Experten mit ihren Standpunkten, Ideen, Kritiken und Perspektiven zu Wort.

Zur Einführung in die aktuelle Museumsdebatte

©Hildegart Stellmacher

Zur Person:

Hildegart Stellmacher stammt aus Frankfurt (Oder) und lebt seit vielen Jahren in Dresden. Seit ihrer Gründung ist sie im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit tätig und engagiert sich unter anderem für die von der Gesellschaft in Dresden etablierten Denkzeichen zur Erinnerung an jüdisches Leben und Leiden im Nationalsozialismus.

(1) Was halten Sie von der Idee, ein „jüdisches Museum“ in Sachsen einzurichten?

Ein jüdisches Museum ist jetzt nicht notwendig. Zuerst ist es wichtig, jüdisches Leben zu fördern und zu unterstützen. Es gab dazu auch schon 1999 einen Stadtratsbeschluss. Dabei gilt es zu unterscheiden, welche Sorgen Jüdinnen und Juden haben und welche Probleme ihnen gemacht werden. Unterstützung benötigen die unter der Bezeichnung Kontingentflüchtlinge Zugewanderten, deren Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden, die nun im Alter arm sind. Die Stadt sollte helfen, eine Möglichkeit zu schaffen, wo sie ihre Tage würdig leben können, ein betreutes Wohnen, das ihren Bedürfnissen entspricht. Gegen Antisemitismus anzugehen, das ist eine Aufgabe für alle Menschen, in Schulen, auf der Straße und am Arbeitsplatz.

Jüdisches Leben innerhalb der Stadt sichtbar zu machen, Bildung und Begegnung zu ermöglichen, dazu braucht man kein jüdisches Museum.

Denkzeichen am Standort der ehemaligen Fraternitasloge in der Moritzstraße 1b, Foto: Hildegart Stellmacher

(2) Wo und wie sollte jüdische Geschichte und Gegenwart zugänglich gemacht werden?

Jüdische Geschichte ist Teil der Stadtgeschichte, sie gehört ins Stadtmuseum, in die Bibliotheken, in die Kulturzentren. Wenn wir 1988 die Ausstellung „Juden in Sachsen“ in der Kreuzkirche und danach in verschiedenen anderen Kirchen zeigten, so lag es daran, dass jüdische Geschichte in der damaligen sozialistischen Geschichtsschreibung ausgeblendet wurde. Das ist heute natürlich ganz anders. Trotzdem müssen wir weiterhin geeignete Orte und Geschichten suchen, an und mit denen auch die erreicht werden, die nicht von allein kommen.

Wie vielfältig das geschehen kann, zeigt das Beispiel jenes Baums, der 2018 auf dem Hof der 153. Grundschule in der Fröbelstraße gepflanzt wurde. Von 1938 bis 1942 befand sich dort die Außenstelle der Jüdischen Schule. Die jüdischen Schüler Dresdens hatten im Juni 1938 anlässlich des 100. Jahrestages der Grundsteinlegung der Synagoge ebenfalls einen Baum auf dem Synagogenhof gepflanzt. An beides erinnert der 2018 neu gepflanzte Baum.

Natürlich ist jüdisches Leben nicht nur Geschichte, sondern vor allem auch lebendige Gegenwart – und die gehört in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

(3) Was kann und was sollte präsentiert werden?

Eine museale Präsentation jüdischen Lebens im Stadtmuseum sollte Bevölkerungsstruktur, Berufe, religiöses Leben, Beteiligung an Politik und Kultur sowie Zuwanderung und Flucht in den Blick nehmen. Dabei sollen auch die Verflechtungen in den Bevölkerungsgruppen deutlich werden, etwa weil sich jüdische Sozialarbeit nicht nur an jüdische, sondern auf alle bedürftigen Menschen richtete. Besonders wichtig ist es, die Biografien beteiligter Personen ausführlich vorzustellen.

(4) Wer soll erreicht werden?

Alle, die sich für die Stadtgeschichte interessieren, erfahren bei ihrem Museumsbesuch auch etwas über Jüdinnen und Juden in Dresden. Damit können hoffentlich die vielfach vorhandenen und nicht selten antijüdischen Klischees in den Köpfen durch detailliertes Wissen ersetzt werden. Aber es sollte auch Begegnungen und Kulturveranstaltungen geben, die Gedankenaustausch ermöglichen und die Vielfalt der Gesellschaft als Ganzes erleben lassen.

(5) Wenn Sie ein museales Objekt auswählen könnten, das Sie als besonders aussagekräftig für Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens halten, welches wäre das – und warum?

Objekte zu finden, die alle Erwartungen erfüllen, ist schwierig. Verschiedene Zeiten sollten repräsentiert werden: Ein Gegenstand aus dem Kontor des Hoffaktoren Berend Lehmann mit Hinweis auf das Berend Lehmann Museum in Halberstadt, aber auch ein Einreisevisum eines Kontingentflüchtlings aus der Sowjetunion sind zwei Dinge, die mir dazu einfallen würden.

(6) Was sollte in der Debatte um ein Jüdisches Museum als nächstes passieren?

Wir müssen die verschiedenen Bereiche, die dargestellt und bedacht werden sollen, voneinander trennen:

  • Für die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Dresden und in Sachsen ist im Stadtmuseum Dresden schon ein Anfang gemacht, der ausgebaut werden kann.
  • Mit Blick auf die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung und der Shoah: Die Ideologie der Verfolger*innen, ihre Pläne und Handlungen können ebenfalls im Museum gezeigt werden. Das gilt besonders auch für die Frage, warum sich so viele an der Verfolgung beteiligten, davon profitierten, beziehungsweise tatenlos zusahen. Auch das Deutsche Hygienemuseum Dresden – aktuell etwa mit der Foyerausstellung „Einige waren Nachbarn“, das Verkehrsmuseum Dresden – dort kann man gerade die Sonderausstellung „Generation Simson“ besichtigen – und das Militärhistorische Museum leisten dazu immer wieder wichtige Beiträge. An konkrete Verbrechen, verfolgte Menschen und zerstörte Einrichtungen erinnern auch in Dresden zahlreiche Gedenkorte und -tafeln, Denkzeichen, Stolpersteine und Mahndepots.
  • Das Buch der Erinnerung mit den Namen und Lebensdaten der Ermordeten von 2006 ist vergriffen. Neue Erkenntnisse sind hinzugekommen. Es müsste überarbeitet und neu aufgelegt werden. Die vorhandene Datenbank „Jüdische NS-Opfer in Dresden 1933–1945“ reicht hier nicht aus, da sie sich auf Angaben zu Nachname, Vorname, Geburtsdatum und -ort sowie Todestag und -ort der Verfolgten beschränkt.
  • Um das vermeintlich „Fremde“ und das „Fremdgemachte“ kennenzulernen braucht man mehr: Lesungen, Musik, Gespräche oder kulturelle Begegnungen etwa. Das Programm, was HATiKVA e. V. hier seit Jahren anbietet, ist sehr wichtig. Es erreicht viele Schüler und Schülerinnen und auch Erwachsene. Natürlich könnte es noch weitere Angebote für Bildung und Begegnung in der Stadt geben. Die Villa Salzburg in der Tiergartenstraße 8 wäre dafür bestens als Begegnungsort geeignet: Nicht nur wurde der Bau von dem jüdischen Dresdner Textilgroßhändler Adolph Salzburg (1838–1909) in Auftrag gegeben und war Ort der Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern die Räumlichkeiten wurden bereits in früheren Jahren für Bildung und Begegnung erprobt. 

Und über alledem sollte das heutige jüdische Leben in Dresden nicht aus dem Blick geraten.

Die Villa Salzburg in Dresden, Foto: Hildegart Stellmacher