Gastbeitrag von Daniel Ristau

Kleiderbügel während einer Haushaltsauflösung in Radebeul im April 2018, Foto: D. Ristau 2018

Es war ein Zufall, dass ich im April 2018 bei einer Haushaltsauflösung in Radebeul unter bestimmt fünfzig weiteren Holzkleiderbügeln jenen mit der Aufschrift „A. Loewenthal, Meissen.“ entdeckte. Auch die meisten anderen Bügel trugen Aufschriften und waren bereits zum Feuerholz bestimmt.

Kleiderbügel „A. Loewenthal, Meissen“

Was für den Vorbesitzer einfach nur ein Kleiderbügel war, rief mir die Geschichte von Alexander Löwenthal (1873–1942) ins Gedächtnis. Weil ich mich damals gerade intensiv mit den Novemberpogromen in Sachsen 1938 beschäftigte, wusste ich, dass Löwenthal ab 1933 zu den nach nationalsozialistischer Definition als Juden verfolgten Menschen gehörte. Am 10. November 1938 war er zusammen mit anderen in Meißen öffentlich gedemütigt worden. Sein Herren- und Knabengarderobengeschäft wurde im Zuge des Pogroms demoliert. Löwenthal musste bald darauf von Meißen nach Dresden umziehen. 1942 wurde er Opfer der Shoah.

Bekleidungsgeschäft von Alexander Löwenthal am Heinrichsplatz in Meißen, Anfang 20. Jahrhundert, Foto: D. Ristau 2021

Erst diese Geschichte und Biografie machte aus dem gewöhnlichen Kleiderbügel ein Objekt, das Zugänge zu verschiedenen Dimensionen des „Jüdischen“, dessen lokalen und allgemeinen Rahmungen offenlegt. Fortan jedoch auf Löwenthal und den Bügel allein durch die „jüdische Brille“ – so formulierte es Victor Klemperer, der selbst als Jude verfolgt war – zu blicken, würde die Perspektive indes ebenfalls verzerren. Schließlich spielte Löwenthals Zugehörigkeit zur Israelitischen Religionsgemeinde in Dresden bis 1933 keine besondere Rolle für seinen Geschäftsbetrieb und sein Leben in Meißen.

Was „jüdisch“ ist? Gute Frage … .

Mit Ausstellungsobjekten wie dem Kleiderbügel und den anderen Impulsen der Intervention in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden ist also vor allem eine Frage verknüpft: Was ist überhaupt „jüdisch“? Darauf gibt es vermeintlich einfache Antworten, tatsächlich ist es aber vor allem eines: komplex und kompliziert.

Während im deutschen Raum in diesem Jahr sogar 1.700 Jahre jüdischen Lebens gefeiert werden, gehörten Jüdinnen und Juden seit dem späten Mittelalter mit Unterbrechungen zur Dresdner Stadtbevölkerung. Bis heute prägen sie die Entwicklungen der Stadt auf unterschiedliche Weise mit. Mehr noch: Der Blick auf jüdische Geschichten und Gegenwarten ist nicht nur Teil, sondern auch Spiegel für das gesamtgesellschaftliche Miteinander in der Elbestadt. Das „Jüdische“ war und ist dabei immer Gegenstand von Aushandlungsprozessen.

Was „jüdisch“ war, ist oder sein soll, ist dabei auch eine Frage des individuellen Standpunkts: Nicht nur religiöse, kulturelle oder rechtliche Bestimmungen – also beispielsweise Gebote, Rituale und Gesetze –, sondern auch persönliche Haltungen und Erwartungen, Wissens- und Meinungshorizonte, soziale Beziehungsnetze wie (erinnungs-)politische Vorgaben bestimmen Wahrnehmungen und Deutungen des „Jüdischen“ maßgeblich mit. Diese wiederum hatten und haben Einfluss darauf, ob das Leben von Jüdinnen und Juden an der Elbe von Teilhabe, Miteinander und Zuversicht oder von Zurücksetzung, Angst und Verfolgung geprägt war und ist.

Die 1840 eingeweihte Synagoge nach dem Entwurf des Architekten Gottfried Semper als sichtbares Zeichen der jüdischen Existenz in Dresden, Städtische Galerie – Kunstsammlung
Die zerstörte Synagoge nach dem Novemberpogrom 1938, Foto: Stadtmuseum Dresden

Es macht also einen Unterschied, ob man sich selber als „jüdisch“ versteht, Christin, Atheist oder Muslima ist, ob man selbst Kontakte zu Jüdinnen und Juden oder überhaupt Berührungspunkte zu jüdischem Leben hat. Letzteres gilt wohl nur für einen sehr kleinen Teil der Dresdner Bevölkerung. Das liegt auch an der vergleichsweise kleinen Zahl von Jüdinnen und Juden in Dresden – die jüdische Gemeinde zählt gegenwärtig etwa 700 Mitglieder. Auch die antisemitische Gefährdungslage – zumal nach dem Anschlag auf die Jüdische Gemeinde Halle im Oktober 2019 – trüben aktuell ein unbeschwertes Miteinander.

Intervention!

Verschiedene Dimensionen des „Jüdischen“ über Geschichten und Kontextualisierungen musealer Objekte und Präsentationen sichtbar zu machen und zu hinterfragen, ist die Idee der Intervention „Rethinking Stadtgeschichte“. Erstmals seit ihrer Eröffnung 2006 wurde dazu in größerem Umfang in die Dauerausstellung des Stadtmuseums Dresden eingegriffen: Zusätzliche Objekte wurden platziert, vorhandene um neue Informationen und Forschungsergebnisse ergänzt. An insgesamt 37 Stellen finden Besucherinnen und Besucher in der Dauerausstellung die in leuchtendem Lila und Rot gehaltenen Interventionen. Weitere Zugänge bieten das Begleitprogramm, das unter anderem künstlerische Auseinandersetzungen und Führungen aus dem Stadtmuseum Dresden heraus bietet, sowie der Blog zur Intervention.

Die Interventionen konzentrieren sich dabei auf drei Themenfelder: Einerseits verdeutlichen sie anhand von Objekten aus privatem Besitz, wo und wie sich jüdische Bezüge im ganz alltäglichen Lebensumfeld und nicht selten überraschend finden. Andererseits stellen sie Dimensionen des „Jüdischen“ vor, also beispielsweise Religion, Selbstverständnis, Alltagsleben, Rechtsstellung, Wirtschaft und Antijüdisches. Und schließlich sind Überlegungen zu einem „Jüdischen Museum“ für Sachsen aufgegriffen, die sich aktuell vor allem auf Dresden und Leipzig konzentrieren. Zur Idee eines solchen Museums äußern sich Akteurinnen und Akteure, Vertreterinnen und Vertreter der sächsischen jüdischen Gemeinden, aus Politik und Wissenschaft ausführlich in Interviews im begleitenden Blog.

Intervention in der Dausstellung des Stadtmuseums, Foto: Museen Dresden / P. W. L. Günther

Alle schließlich, denen die „Rethinking Stadtgeschichte“ nicht ausreicht, um jüdische Geschichte und Kultur in Dresden kennenzulernen, dem seien zusätzlich die reichen Veranstaltungsangebote im Rahmen zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und der „Jüdischen Woche Dresden“ empfohlen.